Niemand kann erwarten, dass eine über 150jährige sich über Nacht erneuert. Seit dem schlechtesten SPD-Ergebnis aller Zeiten bei freien, gleichen und geheimen Wahlen sind erst vier Wochen vergangen. Man geht also noch gebeugt, auch wenn Niedersachsen wie eine leichte Schmerztablette gewirkt haben könnte. So sollte man jedenfalls meinen, aber so läuft es in Berlin leider nicht.
Seit dem Wahlabend ist aber auch schon einiges passiert. So musste Thomas Oppermann offenbar abgefunden werden dafür, dass er einer jüngeren Frau den Platz an der Spitze der Bundestagsfraktion frei gemacht hat. Mit eigenem Büro und eigenem Chaffeur, denn das sind – neben einem 50%igen Aufschlag auf die Abgeordnetendiäten – die Privilegien eines Bundestagsvizepräsidenten.
Das ist das derzeit einzige öffentliche Amt, das auf Bundesebene an die SPD fällt. Da hätte das ausgerufene Motto, von „jünger und weiblicher werden“ eigentlich andere Entscheidungen erwarten lassen. Im letzten Bundestag stellte die SPD zwei Vizepräsidenten und beide waren Frauen. Jetzt gibt es nur noch einen Vize (denn ehrlich gesagt ist für die sechs Stellvertreter, die sich aus der Jede-Fraktion-stellt-einen-Vize-Regel ergeben schon nicht genug Arbeit da) – und prompt ist es ein – alter(!) – Mann. Ulla Schmidt und Christine Lambrecht, die beide zum Verzicht gedrängt wurden, wären zwar auch nicht als Verjüngung durchgegangen, aber weiblich sind beide zweifellos – und zumindest stehen die Verdienste einer einstigen Ersten Parlamentarischen Geschäftsführerin (1. PGF) denen des ehemaligen Fraktionsvorsitzenden nicht allzu weit nach. (Während die von Frau Schmidt schon etwas verjährt sind…).
Die erste Bewährungsprobe für den von Martin Schulz ausgerufenen Leitgedanken von der Erneuerung zu einer jüngeren und weiblicheren SPD hat sie, die SPD, oder er, Martin Schulz schon einmal nicht bestanden.
Die männliche Verjüngung auf dem Posten des (wieso nicht der) SPD-Generalsekreträs*in soll nun Lars Klingbeil symbolisieren, der tatsächlich über 6 Jahre jünger ist als sein widergängerischer Vorgänger Heil. Über Letzteren wurde zwar verbreitet, zum Verzicht auf den PGF-Posten und zu seinem Beschluss, sich nicht zum Generalsekretär wählen zu lassen, habe er eine „große“ Rede vor der Fraktion gehalten – und tatsächlich ist er im Reden nicht schlecht – aber als Generalsekretär ist er gleich für alle beide schlechtesten Wahlergebnisse der SPD verantwortlich. Und Wahlkampf ist der Kern des Jobs als Generalsekretär. Nicht seine Schuld ist es, dass ihm offenbar mit dem PGF-Posten gedankt werden sollte (da gibt es auch mehr Geld und einen Fahrer) und dass dies misslungen war. Er ist halt kein „Seeheimer“, wie Oppermann, der ja bekanntlich seine erste bundesweite Bekanntheit vor langer Zeit durch den Einsatz für(!) Studiengebühren erlangt hatte.
Vor diesem von alters her sattsam bekannten Geschacher vertrieben wurde inzwischen die noch (*1978) junge, weibliche und offenbar untadelige Bundesgeschäftsführerin Juliane Seifert, weil die Geheimhaltung des Angebots dieses Postens an die scheidende Juso-Bundesvorsitzende misslungen war. Chapeau für Frau Seifert!
Die Art und Weise dieser Personalpolitik zeigt, wie dringend notwendig die von Martin Schulz ausgerufene Erneuerung ist. Johannes Rau hatte seinerzeit empfohlen, dass bei einer glaubwürdigen Politik den Worten auch mit ihnen übereinstimmende Taten folgen müssen. Wenn das nicht einmal in den eigenen Angelegenheiten gelingt, können anhaltend schlechte Zustimmungsraten nicht überraschen.
Nun haben sich zwei Parteivizes schriftlich geäußert. Der eine Text wird am 27. 10. 2017 etwas kryptisch in der Süddeutschen Zeitung zitiert, als Kampfansage eingeordnet und stammt von Olaf Scholz; Der andere findet sich im „Vorwärts“, der SPD-Mitgliederzeitung, der Autor ist Ralf Stegner. Beide sind Vizevorsitzende, beide arbeiten sich am Ergebnis der Bundestagswahl ab; jeder steht für einen der traditionellen Parteiflügel. Der „Linke“, Stegner schreibt im Vorwärts und übt Solidarität mit dem Vorsitzenden Schulz. Der „Rechte“, Erster Bürgermeister Olaf Scholz lässt zunächst Neugier wecken und nimmt dafür den Verdacht, sich gegen Martin Schulz stellen zu wollen, in Kauf.
Beide haben eine sofort ins Auge fallende Gemeinsamkeit, die hoffen lässt: Stegner mahnt, Politik müsse etwas wollen und dürfe nicht nur dem „mainstream“ hinterherlaufen; Scholz findet, die SPD sei in der Vergangenheit „viel zu taktisch“ gewesen. In der „Spiegel“-Reportage über Schulz‘ Wahlkampf konnte nachgelesen werden, wie sehr – auch noch falsche – Taktik das Verhalten bestimmen. Seit vielen Jahren – nicht durch Martin Schulz – ist der Apparat im Willy-Brandt-Haus in einem Modus, den Umfragehörigkeit zu nennen, keine große Übertreibung ist. Diese Hörigkeit wird verschlimmert durch einen vor Angst starren Blick auf die Leitmedien, die um Himmels willen keine negativen Schlagzeilen bringen sollen und solche Vordenker, denen das Urteil von sogenannten Fachöffentlichkeiten und ihr eigener Ruf dortselbst wichtiger ist, als die Partei praktisch oder programmatisch voran zu bringen. Nur um einzelnen Mitarbeiter*innen im Apparat nicht durch Pauschalurteile Unrecht zu tun: es gibt sicher auch Menschen im Willy-Brandt-Haus, die ihre Expertise in den Dienst der beschlossenen Ziele stellen, aber dieser dereinst verbreitete Mitarbeitertypus wird immer seltener.
Eine zweit Gemeinsamkeit sollte aufhorchen lassen; Es ist eine fast gleichlautende – ergo flügelübergreifende – Akzentverschiebung in der Bildungspolitik. Bildungsgerechtigkeit, so der Gedankengang, habe ein Klima geschaffen, in dem nichts gilt, wer lieber etwas Anderes tut als Hochschulabschlüsse zu erreichen. Also müsse sich die SPD besinnen, auch und gerade die Menschen zu vertreten, die ihre Berufszufriedenheit in Ausbildungsberufen finden. Deren Ansehen müsse eine sozialdemokratische Partei zu mehren trachten und zusätzlich denen helfen, die zweite Chancen benötigen – ob im Arbeitsleben oder im Bildungswesen.
Die SPD-Linken haben sich offenbar wieder ein neues Grundsatzprogramm zum Ziel gesetzt. Das ist aus vielerlei Gründen schwer nachvollziehbar. Im Allgemeinen sind solche Programmdiskussionen bestens geeignet, den linken Flügel zu binden und an der konkreten alltäglichen Politikgestaltung zu hindern; desweiteren wäre schon das geltende, kaum 10 Jahre alte Hamburger Programm aus linker Sicht beinahe zum inhaltlichen Desaster geworden. Im Besonderen spricht dagegen, dass die von Stegner genannten inhaltlichen „Baustellen“ und Zieldefinitionen zweifellos vom Hamburger Programm gedeckt sind.
Zum Wochenende wird gemeldet, dass Schulz und Scholz erklären, noch mehr Gemeinsamkeiten miteinander zu haben, als ohnehin schon gedacht. Es könnte also sein, dass Olaf Scholz sich nicht zu Wort gemeldet hat, weil er Martin Schulz schwächen wollte, sondern nur, um seine Position als einer der mächtigsten Sozis hinter den wechselnden Vorsitzenden zu festigen.
Da kommt noch einiges auf das Publikum zu; die SPD wird wieder interessant.
Wolfgang Wiemer ist leider so informiert, dass ein wenig nachgebessert werden muss. Wer die Verdienste Ulla Schmidts als verjährt ansieht, sollte noch mal recherchieren. Sie ist Bundesvorsitzende der Lebenshilfe. In dieser Funktion hat sie während der vergangenen Jahre für die Interessen der Behinderten in Deutschland – mehr als sechs Millionen Menschen – im Bundestag leidenschaftlich gestritten; zum Beispiel gegen eine gesetzliche Öffnung wonach nicht einwilligungsfähige Menschen zu Probanden für Medikamententests gemacht werden dürfen. Das Amt der Bundestagsvizepräsidenten hat dabei ganz wesentlich geholfen, gegen einen falschen Fortschrittsglauben die Stimme zu erheben. Von ihrem, wie soll ich schreiben – „Nachfolger“ ist solches nicht bekannt. Und wer sich heute im bundesdeutschen Gesundheitswesen umschaut und die schläfrigen Augen aufmacht, begegnet „der Schmidt“ auf Schritt und Tritt – von der besseren Finanzierung von Hospizen bis zur Kostensenkung bei vielen Medikamenten.