Kinderarmut? Gibt es doch nicht bei uns. So hört man es seit Jahren, wenn zum Beispiel die nationale Armutskonferenz ihre Berichte vorlegte. Die so genannte Gesellschaft wollte es und will es auch heute oft nicht hören, nicht wahrhaben, dass so manches auch bei uns nicht stimmt. Kinderarmut, ja in Teilen von Afrika und Asien, aber doch nicht hier. Die neue Bertelsmann-Studie beweist aber: Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut, in Berlin ist die Lage noch heikler: Jedes dritte Kind stammt aus einer Familie, die auf Grundsicherungsleistungen angewiesen ist. So schreibt es die Berliner Zeitung. Und in manchen Ecken des Ruhrgebiets sieht es genauso düster aus.
Armut in Deutschland ist natürlich nicht mit Armut in Bangladesch oder in Gambia oder Äthiopien oder in Peru zu vergleichen, Länder, in denen man täglich ums Überleben kämpfen muss. Im Vergleich dazu geht es auch den Kindern aus prekären Familienverhältnissen gut. Aber dieser Vergleich gehört sich nicht, er ist schief und unfair. Es geht um die Verhältnisse in Deutschland, um Menschen, die hier leben. Offiziell wird bei uns Armut so definiert: Wenn eine Familie weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat und/oder Hartz IV bezieht, lebt sie unterhalb der so genannten Armutsgefährdungsschwelle. Für Zwei Drittel dieser betroffenen Kinder ist das ein Dauerzustand. Der Armut wieder zu entkommen, ist ungeheuer schwierig. Wer einmal arm ist, bleibt lange arm.
Im reichen Deutschland
Ein beschämendes Thema in einem der reichsten Länder Europas. 2,7 Millionen Kinder leben hier in Armut. Diese Kinder müssen auf vieles verzichten, was für die „normalen“ Kinder nahezu selbstverständlich ist. Sie sind häufig isoliert, häufiger krank als ihre Altersgenossen aus anderen Schichten, sie leben in engen Wohnungen ohne Toilette, eine Waschmaschine ist ein Luxus, den sie sich nicht leisten können, es gibt keinen Spielplatz in der Nähe, keine Grünfläche. Verzicht heißt für sie, kein Geld für den Klassenausflug zu haben, für das Kino, das Schwimmbad, sie sind auch nicht in Sportvereinen, was ihnen gut tun würde, aber zu teuer ist. Das Geld fehlt an allen Ecken und Enden, sie können vielfach Einladungen zu Geburtstagen nicht annehmen, weil sie kein Geld für Geschenke haben und auch nicht in der Lage sind, andere Kinder zu sich einzuladen.
Kinder, die so isoliert sind, die sich so vieles nicht leisten können, schämen sich oft ihrer prekären Situation. Sie fühlen sich ausgeschlossen von der Gesellschaft, da sie kaum soziale Kontakte haben. Auch wenn die Eltern oft versuchen, ihre schwierige Lage den Kindern zu verheimlichen, spüren die Kinder natürlich, dass es anderen besser geht, dass sie in Urlaub fahren können und sie nicht.
Kinder von Alleinerziehenden
Besonders betroffen sind Kinder von Alleinerziehenden und Kinder aus Familien mit vielen Kindern. Da hat kaum jemand ein Einzelzimmer. Dazu kommen Kinder von Flüchtlingen, hier fehlt es fast überall, an Kleidung, Büchern, Spielzeug, sie können die deutsche Sprache nicht. Und schließlich sind Kinder von Eltern, die nur gering qualifiziert sind, von Armut und all den geschilderten Folgen betroffen.
Die Folgen für die Kinder: sie machen seltener eine Schulausbildung und eine Berufsausbildung, nur ganz wenige schaffen es bis zum Abitur oder gar ein Studium. Die langfristige Konsequenz: Wenn diese Kinder erwachsen sind, arbeiten sie in weniger qualifizierten Jobs, wenn sie überhaupt Arbeit haben und vererben dann ihre Armut auf ihre eigenen Kinder weiter. Die Spirale scheint ohne Ende: Ärztliche Vorsorgetermine werden von Kindern dieser Eltern in Armut seltener wahrgenommen, was bedeutet, dass die Kinder häufiger erkranken.
Es besteht Handlungsbedarf
Damit man aus dieser Falle herauskommt, reicht es nicht, die Sätze für Hartz IV zu erhöhen, um nur ein Beispiel zu nennen. Es muss grundsätzlicher gedacht und angepackt werden. Was schwierig ist. Aber man muss den arbeitslosen Eltern helfen, dass sie wieder in den Arbeitsmarkt zurückfinden. Das Deutsche Kinderhilfswerk fordert Bildungsgerechtigkeit: Alle Kinder müssen von Anfang an so gefördert werden, dass ihre Talente entdeckt und sie entsprechende Ausbildungsgänge einschlagen können. Andere Forderungen kommen hinzu, um u.a. Alleinerziehenden und ihren Kindern einen Teil des Armutsrisikos, das ständig steigt, abzunehmen. Vielleicht könnte eine Grundsicherung für Kinder helfen, wie sie vom Kinderhilfswerk angeregt worden ist. Das Modell, zitiert im Kommentar der „Süddeutschen Zeitung“-übrigens auf der Wirtschaftsseite-, sieht einen Betrag von 573 Euro für jedes Kind und jeden Monat vor. Aber wenn es einkommensunabhängig sein soll, wird es problematisch, weil auch Eltern mit höheren Einkommen davon profitieren würden.
Aber es besteht Handlungsbedarf. Die Politik und die Gesellschaft sollten sich nicht damit begnügen, Skandal zu rufen, sich zu empören und auf irgendwelche Schuldigen mit dem Finger zu zeigen, sondern sich des Problems einmal grundsätzlich annehmen. Es geht um Millionen Kinder, die in Armut aufwachsen. Ihnen zu helfen, ist unsere Pflicht. Sie brauchen eine Chance. Auch das gehört zur Würde des Menschen, die in Artikel 1 unseres Grundgesetzes verbrieft ist, dazu. In Würde zu leben, das wäre ein Programm nicht für die Sonntagsreden, sondern als praktizierte Sozialpolitik. So bekämpft man populistische Parteien, in dem man ihnen das braune Wasser abgräbt.
Bildquelle: Wikipedia, Bbommel, CC BY-SA 3.0