9. Oktober 1989, vor 30 Jahren. Es war der Tag, an dem sich alles veränderte, an dem ein autoritärer Staat, genannt DDR, einen Tag nach den Feiern zu seinem 40. Geburtstag in seinen Grundfesten so erschüttert wurde, dass er nicht mehr zu halten war. In Leipzig geschah das, 70000 Demonstranten sollen, 100000 mögen es gewesen sein, in jedem Fall zuviele für die Stasi, die NVA-Soldaten, für die von der Staatsmacht aufgebotenen Männer, um die Konterrevolution, wie sie das nannten, ein für alle Mal niederzuschlagen. So hatten es Erich Honecker und Stasi-Chef Mielke noch Ende September angeordnet. Es ist beinahe komisch, wenn heute darüber gestritten wird, ob die DDR denn nun ein Unrechtsstaat gewesen sei oder nicht. Ja, was denn sonst soll die DDR gewesen sein?! Wofür dienten denn Mauer, Stacheldraht, Schießbefehl? Was ist ein Land ohne Wahl- und Pressefreiheit, ein Land, das seine Bürger mit Gewalt daran hindert, in alle Welt zu verreisen, ein Land, das seine eigenen Leute bevormundet, sie abhört, drangsaliert, verprügelt, einsperrt? Alles schon vergessen?
Und damit meine ich nicht die Millionen Bürgerinnen und Bürger der DDR, sie hatten unter diesem System, das man ein Regime nennen konnte, zu leiden. Nicht die Menschen von Rostock bis Leipzig will ich mit dem Begriff Unrechtsstaat beleidigen oder ihnen irgendetwas absprechen oder gar ihre Leistungen kleinreden. Auf keinen Fall. Ohne die damalige Bundesrepublik schönreden zu wollen, ich war froh, dass ich auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs genannten Grenze aufwachsen durfte ohne all die Beschränkungen und Einschränkungen, es war Zufall, Glück, hier und nicht dort geboren worden zu sein. Womit ich wiederum nichts gegen Sachsen oder Thüringer gesagt haben will, meine Kritik richtet sich gegen das Einparteien-System, das die SED dort aufgezogen hatte, gesichert von der militärischen Macht des großen „Bruderstaates“ Sowjetunion. Will sagen: Wir im Westen waren nicht die besseren Menschen oder die besseren Deutschen. Dass die deutsche Einheit auch nach Jahrzehnten immer noch keine Einheit geworden ist, dass es immer noch Unterschiede zwischen West und Ost gibt, die dringend beseitigt werden müssen, steht außer Frage. Und ich wiederhole auch gern, dass es ein Fehler war, dass die DDR damals bloß der BRD beigetreten ist, dass wir über das Grundgesetz nicht diskutiert und nicht darüber abgestimmt haben. Der Eindruck hätte nicht entstehen dürfen, dass sie die gemeinsame Verfassung einfach „geschluckt“ haben. Was aber wiederum nicht bedeutet, dass ich dieses Grundgesetz kritisieren würde, nein, aber es hätte vielleicht die eine oder andere Ergänzung gegeben, angestoßen von den Bürgerrechtlichern in Leipzig oder Dresden oder Berlin.
Kurt Masur und Pfarrer Führer
Zurück zu Leipzig, zur Heldenstadt, ein Begriff der sowjetischen Historie entnommen, womit Städte ausgezeichnert wurden, die sich im Widerstand gegen Nazi-Deutschland besonders ausgezeichnet hatten. Leipzig wurde zur Heldenstadt, weil ihre Bürger am 9. Oktober der Staatsmacht mutig gegenübertraten, weil Bürgerrechtler, Christen, Künstler, Intellektuelle, weil Leute wie der Dirigent des Gewandhaus-Orchesters Leipzig Kurt Masur und der Pfarrer der Nikolai-Kirche Christian Führer den Demonstrationen ein Gesicht gaben. Sie hatten sich in der Nikolai-Kirche versammelt, unter den Augen der Stasi, deren Leute als erste die besten Plätze in diesem Gotteshaus eingenommen hatten. Keine Gewalt! So stand auf den Transparenten zu lesen. Wir sind das Volk! Mit Kerzen traten sie auf die Straßen Leipzigs, unerschrocken wohl nicht ganz, denn natürlich ging auch die Angst um damals, die Angst, dass die Demonstranten zusammengeschlagen würden. Die Angst marschierte mit, weil sie im Kopf hatten, dass Egon Krenz kurz zuvor bei einem Staatsbesuch in China das Massaker in Peking gut geheißen hatte. Kerzen als Waffen, wie schön.
Man darf nicht vergessen, dass das SED-Regime noch am Vortag, als man den 40. Geburtstag in Berlin, Hauptstadt der DDR, feierte mit anderen Staatsgästen im Palast der Republik, Demonstranten verprügeln ließ, kaum dass Michail Gorbatschow den Flughafen Schönefeld erreicht hatte, um Richtung Moskau zu fliegen. Die stalinistischen Methoden waren in der DDR noch nicht aus der Mode gekommen, auch wenn Gorbatschow Reformen anmahnte. Noch glaubten die Honeckers, ihr System mit militärischer Macht retten zu können, noch glaubten sie, alles unter Kontrolle zu haben, weil sie alles und alle abhörten. Und doch ahnten sie nicht, was draußen vor sich ging.
Das System war in die Jahre gekommen, marode geworden. Wir haben all die Bilder vergessen, die der Tourist aus dem Westen damals mit nach Hause nahm, wenn er drüben gewesen war. Selbst die Messestadt Leipzig, die man zu Messezeiten gern herausputzen ließ, damit sie sich der Welt als freundliche und bunte Stadt von Welt zeigen konnte, bot, wenn man in die Seitenstraßen einbog oder gar in die Vorstädte, Bilder des Verfalls, der Putz war schon von den Häuserfassaden runtergefallen, Fenster hingen schief im Rahmen, es fehlte überall an Farbe und überhaupt an Waren. Honecker hatte tatsächlich den Plan, dass sich Leipzig um die Ausrichtung der Olympischen Spiele 2004 bewerben sollte. Viele fragten sich, wie wollen wir das bezahlen? Groß waren die Umweltprobleme, die Luft war durch die Braunkohle-Heizungen verpestet, die Lasten der chemischen Industrie hatten ihre Spuren im Wasser, in der Luft und im Boden hinterlassen, die Rekultivierung der Tagebau-Landschaften kam nicht voran. Ich bin da mal um 1990 im Hubschrauber drüber geflogen, ich sah nur in eine riesige Kraterlandschaft. Der Widerspruch zwischen dem Alltag und den Parolen des SED-Regimes wurde immer krasser, er war kaum noch zu verbergen.
Vor diesem Hintergrund wurden die Rufe lauter, nahm der Mut zur Kriitik an den Missständen zu. Die Botschafts-Flüchtlinge in Budapest und Warschau taten ein Übriges, die Ungarn öffneten die Grenze, Gorbatschows Perestroika und Glasnost-Politik ermutigte Dissidenten, sich auf den KP-Generalssekretär in Moskau zu berufen. Gorbi hilf! hieß es. Es bildete sich ein Netz von Dissidenten, verteilt über die ganze DDR, nicht nur über Leipzig und Berlin.
Todesdrohung lag in der Luft
Heldenstadt Leipzig. Warum eigentlich nicht? Die Demo in Berlin am 4. November 1989 war genehmigt, die in Leipzig am 9. Okrtober 1989 nicht. Wobei man den Widerstand in Berlin aus Anlass der Feierlichkeiten des DDR-Jubiläums nicht unterschätzen darf. Dass kein Schuß fiel in Leipzig, konnte Zufall gewesen sein, Glück, weil niemand den Befehl gab? Die Lastwagen jedenfalls standen bereit, um Demonstranten abzutransportieren, Krankenhäuser hatten Alarmpläne vorbereitet, um Verwundete zu versorgen, es gab MG-Nester entlang des Demo-Zuges in Leipzig, Schützenpanzer, die Todesdrohung lag in der Luft an jenem Abend, an dem westdeutsche Journalisten keinen Zutritt hatten in die Stadt. Aber es gab Video-Aufnahmen von den Oppositionellen Aram Radomski und Siegfried Schefter, die von einem Kirchturm aufgenommen worden waren und die nach Westberlin geschmuggelt wurden und am Tag danach ausgestrahlt wurden über die ARD. Ich erinnere mich noch an die Tagesthemen, an Hans-Joachim Friderichs, der diese Video-Bilder mit der ihm eigenen Gelassenheit und Kompetenz kommentierte.
Die friedliche Revolution hatte am 9. Oktober 1989 ihren Höhepunkt. Die Bürgerrechtler von damals sollten sich die Urherberschaft nicht von Nationalisten und Rassisten nehmen lassen, die gar nicht dabei waren damals im Herbst, die aber heute abstauben wollen. Vollende die Wende? Eine dreiste Parole der AfD.
Bildquelle: Wikipedia, Geisler Martin, CC BY-SA 3.0