Franz Müntefering, SPD-Bundestagsabgeordneter in den Zeiten der Wende, erinnert sich, wie das war am 9. November 1989. Der Bundestag tagte im Bonner „Wasserwerk“, dem Übergangsparlament, weil der alte Plenarsaal abgerissen worden war und ein neues Haus gebaut wurde. Zunächst steht die Rentenreform auf der Tagesordnung, dann das Vereinsförderungsgesetz. Es ist im Grunde nichts los, keine Hochspannung liegt in der Luft, Alltag in Bonn. Man tagt in überschaubarer Runde, in den frühen Abendstunden füllt sich dann der Saal. Immer wieder, erinnert sich Franz Müntefering, seien am Abend Kollegen in den Plenarsaal gekommen und hätten davon berichtet, was in Berlin los sei. Es stünden Menschen auf der Mauer, einige seien rübergeklettert, Bundesminister Rudi Seiters(CDU) habe der amtierenden Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger(SPD) einen Zettel gereicht. Die Sitzung sei unterbrochen, dann wieder aufgenommen worden. Und dann seien die Abgeordnete aufgestanden und hätten die 3.Strophe des Deutschlandliedes gesungen: Einigkeit und Recht und Freiheit.
„Ich war im Wasserwerk“, erinnert sich Franz Müntefering, „ als Kollegen beinahe ungläubig darüber berichteten, da laufe ein dickes Ding in Berlin. Willy Brandt hatte Tränen in den Augen. Aber wir hatten noch nicht begriffen, welch historisches Ereignis sich da abspielte, das zu einem welthistorischen Ereignis werden sollte“. Und der SPD-Politiker räumt ein: „Wir hatten doch das alles erlebt, was in der Vergangenheit passiert war, wie da die Aufstände der Menschen in Ostberlin, in Ungarn, in Prag niederkartätscht worden waren und dachten zunächst: Das gibt es doch gar nicht. Wir hatten unglaubliches Glück, dass das so friedlich ablief, dass kein Schuss fiel, kein Panzer rollte. Danke an alle Verantwortlichen, auch an Michail Gorbatschow.“
Über den Ablauf des Abends und darüber, wann und wie Brandt von den Ereignissen erfahren habe, ist oft gestritten worden. So hat Brandts dritte Ehefrau, Brigitte Seebacher-Brandt, behauptet, er sei in seinem neuen Haus in Unkel erst in der Nacht von einem Reporter informiert worden. So kann man es nachlesen in der ersten großen Biographie über Willy Brandt aus der Feder des bekannten Fernseh-Journalisten Peter Merseburger, einstiger Spiegel-Redakteur, Panorama-Mann, ARD-Korrespondent in den Zentren der Welt. In dem Buch, geschrieben 2002, gewürdigt und gepriesen vom Zeit-Journalisten Volker Ullrich, stützt sich Merseburger auf die Schilderung von Seebacher-Brandt. Wörtlich heißt es auf Seite 836: „Die Nachricht vom Mauerfall erreicht ihn zwischen vier und fünf Uhr morgens am 10. November, als das Telefon klingelt und ein Redakteur des Hessischen Rundfunks ihn sprechen will. Die Stunde ist ungewöhnlich, seine Frau Brigitte hat die Szene geschildert: Ich weckte meinen Mann; jemand behaupte, die Mauer sei auf und er will dich interviewen.“
Klingt gut, liest sich gut, aber war es so? Hat Willy Brandt wirklich den Fall der Mauer in seinem neuen Haus in Unkel am Rhein „verschlafen“, wie es der Redakteur der Welt am Sonntag, Daniel Friedrich Sturm in seinem Artikel „Die Reise seines Lebens“ kürzlich behauptet hat. Demnach sei der Altkanzler nach dem Sitzungsschluss des Bundestages nach Hause gefahren, er sei müde gewesen, erst am Tag zuvor sei das Ehepaar in das neue Haus gezogen, der Fernseher sei noch nicht angeschlossen gewesen.
Egon Bahr, ein alter Vertrauter Brandts schon aus den ersten Berliner Jahren, hat die Szene anders in Erinnerung. Brandt habe ihn am Abend des 9. November angerufen und ihn gefragt: „Weißt Du, was los ist?“ „Ja“, habe er geantwortet. Darauf Brandt: „Staunste, was?“ Bahr: „Ja“. Brandt: „Hättste nicht erwartet?“. Bahr: „Nein.“
Die Berliner Ereignisse erreichen den auf Arbeitsbesuch in Warschau weilenden Bundeskanzler Helmut Kohl erst spät. Es findet gerade ein Staatsbankett statt, als die Kohl-Mitarbeiter im Bonner Kanzleramt am Fernseher die historischen Bilder fast atemlos verfolgen, wie die Menschen über die Grenze strömen und die Mauer im Sturm nehmen, fröhlich tanzend.
Deshalb war Minister Rudi Seiters ins „Wasserwerk“ geeilt, um die Abgeordneten zu informieren. Zur gleichen Zeit versucht Ministerialdirektor Eduard Ackermann, Kohls Vertrauter seit Jahren, den Kanzler in Warschau zu unterrichten. Vorausgegangen war die Pressekonferenz in Ostberlin mit SED-Mitglied G. Schabowski, wo dieser auf Nachfragen eines italienischen Journalisten bestätigte, dass die Reisefreiheit für alle DDR-Bürger ab „sofort, unverzüglich“gelte. Was bedeutete: Jeder DDR-Bürger darf in den Westen reisen. Eine Sensation! Es war nicht einfach, den Kanzler zu erreichen. Als Kohl endlich, weil Ackermann nicht lockerlies, ans Telefon kam, wollte Kohl die Nachricht zunächst nicht glauben. Aber Ackermann konnte den Regierungschef mit den Worten überzeugen: „Herr Bundeskanzler, das Fernsehen überträgt live.“ An diesem Abend gab es in Deutschland keinen Sender, der nicht live berichtete. Hunderttausende Menschen zogen jubelnd und kreischend durch die Straßen Berlins.
Das Ereignis hat Willy Brandt natürlich mitbekommen, es hat ihn betroffen gemacht, er hat geweint, wie Müntefering es geschildert hat. Mag sein, dass er zögerlich war, aus der Sorge heraus, die Russen könnten wie früher eingreifen. Die Fernsehbilder, von denen wir Standfotos veröffentlichen, zeigen den in sich versunkenen Altkanzler. Später sagte er zu dem Ereignis: „Ich danke dem Herrgott, dass ich das noch erleben durfte.“
Der 9. November und der Fall der Mauer spaltete die damalige SPD. Die jüngeren wie Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und auch Björn Engholm und Heidi Wieczorek-Zeul beharrten zunächst auf der offiziellen Linie, das vereinigte Deutschland sei erst am Ende der Einigung Europas denkbar. An dieser Reihenfolge, so Schröder, sei nicht zu rütteln. Auch in einer „denkbaren nationalen Aufwallung“ dürfe es keine Aufweichung geben, beschreibt Merseburger die Haltung der so genannten Brandt-Enkel. Und Lafontaine ergänzte, die Wiederherstellung eines Nationalstaates könne nicht das Ziel einer SPD sein, die stets internationalistisch gedacht habe.
Aber die Geschichte hat sich dann darum nicht gekümmert und Willy Brandt, Hans-Jochen Vogel und Johannes Rau ebenso wenig. Anders als die Jüngeren in der SPD, die mit der Einheit nichts anfangen konnten und einige von ihnen Brandt sogar Deutschtümelei vorhielten, folgten die Älteren ihren Gefühlen und dem, was draußen an Geschichte ablief. Die Menschen in der DDR warteten nicht, sie holten sich, was sie sich lange vergeblich erträumt hatten. Die Mauer fiel und mit ihr das SED-Regime.
Brandt hatte immer eine Beziehung zu Deutschland, anders als die Enkel. Er hatte wie Egon Bahr den Gedanken an die Einheit nie aufgegeben, allerdings nicht mehr damit gerechnet, sie noch zu erleben. Es ärgerte ihn, kann man bei Merseburger nachlesen, als er Walter Momper, damals Regierender Bürgermeister Berlins, vom „Volk der DDR“ reden hörte und davon, dass dies nur eine Stunde des Wiedersehens sei. Brandt spürte längst, dass dies mehr war, man musste nur den Menschen zuhören und zusehen. Deutschland, einig Vaterland, riefen sie später, nachdem sie „Wir sind das Volk“ und dann „Wir sind ein Volk“ skandiert hatten. Die deutsche Einheit war für Brandt die Verwirklichung eines Traums, die Ereignisse empfand er als eine Art Jungbrunnen, aus dem er neue Kraft schöpfte. Wäre er nicht so alt gewesen, er wäre noch einmal angetreten als Kanzlerkandidat der SPD und nicht Lafontaine. Für Brandt war die Einheit eine Sache des Herzens und der Leidenschaft.
Bildquelle: Bildschirmfoto während der Übertragung der Bundestagssitzung durch den WDR