Merkwürdig ist es schon. Da treffen sich die Staats- und Regierungschefs von 32 Mitgliedsländern der NATO, um das 75jährige Bestehen der westlichen Allianz zu feiern. 75 Jahre, das ist wahrlich ein guter Grund, warum die „North Atlantic Treaty Organization“ in Washington zusammenkommt. Damals hatte sie das Ziel, wie es die FAZ in ihrem Kommentar beschreibt, „den Kreml davon abzuhalten, auch noch den westlichen Teil Europas unter sein Joch zu zwingen, das die Mittel- und Südosteuropäer von 1945 bis 1989 zu tragen hatten“. So war das ein paar Jahre nach dem verheerenden Weltkrieg, die einstigen Alliierten, die Hitler-Deutschland bezwungen und das Land sowie die Menschen von der braunen Diktatur befreit hatten, waren schnell zu Gegnern, ja Feinden geworden, Stalins Rote Armee mitten in Berlin, die einstige Reichshauptstadt geteilt wie Deutschland. „Der Russe stand vor der Tür“, so das tägliche Feindbild, das uns gezeigt wurde, der Russe habe das Ziel der Weltherrschaft des Kommunismus über den Rest der Welt. Der Rest, das waren die anderen, die sogenannte freie Welt, der Westen. Die DDR errichtete eine Mauer mitten in Berlin, das Land mauerte sich ein und damit auch seine Bewohner, denen man die Reisefreiheit entzog- Ausnahmen waren Reisen in die befreundeten kommunistischen Länder. Niemand dachte daran, dass sich daran etwas ändern könnte- zumindest nicht auf absehbare Zeit. Aber dann fiel die Mauer, im Grunde überwunden und auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen durch die Menschen jenseits der Elbe, ihrem Mut, mit Kerzen gegen die bewaffnete Übermacht der SED-Herrschaft mit ihrer Stasi zu demonstrieren. Für Freiheit oder soll ich sagen für mehr Freiheiten- des Reisens, der Presse, der Meinung, der Freiheit zu wählen, sich zu versammeln, zu reden. Für mehr Wohlstand, die D-Mark und all den kleinen wie großen Luxus.
Es war der ungarische Außenminister Gyula Horn, der zusammen mit seinem österreichischen Amtskollegen Alois Mock am 27. Juni 1989 mit Bolzenschneidern den Stacheldraht an der Grenze ihrer Länder durchtrennten. Wochen danach, am 19. August, riefen ungarische Oppositionelle zu einem Paneuropäischen Picknick. Zweck: Ungarn und Österreicher sollten sich im Grenzbereich treffen, um gemeinsam zu essen, zu trinken und miteinander zu reden. In der DDR löste diese Maßnahme eine richtige Sogwirkung aus, viele ihrer Bürger reisten nach Ungarn und hofften auf ihre Ausreise in den Westen, also erst nach Österreich, dann weiter in die Bundesrepublik. Berühmtheit erlangte die Massenflucht von DDR-Bürgern in die deutsche Botschaft in Prag, der Auftritt von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, der vom Balkon der Botschaft den auf dem Gelände ausharrenden Geflüchteten mitteilen konnte, dass sie mit dem Zug in die Bundesrepublik ausreisen könnten. Wochen später, am 10. September, öffnete Ungarn offiziell die Grenze zum Nachbarland, wenige Monate danach, am 9. November 1989 fiel in Berlin die Mauer. Mit der Grenzöffnung zwischen Ungarn und Österreich war auch der Eiserne Vorhang gefallen, der den Osten Europas vom Westen Europas über vierzig Jahre getrennt hatte.
Zurück zum FAZ-Kommentar: „Polen, Ungarn, die baltischen Republiken und viele andere Staaten traten nach der Befreiung von dieser Fremdherrschaft und der Wiedergewinnung ihrer Souveränität aus freien Stücken dem westlichen Verteidigungsbündnis(der Nato also) bei, das zum Garanten ihrer Freiheit und territorialen Integrität wurde“.
Warschauer Pakt aufgelöst
1991 wurde der Warschauer Pakt aufgelöst, es sei daran erinnert, dass es auch Gedanken gab, nun brauche man auch die NATO nicht mehr, das Feindbild sei ja weg, der Russe ein Freund. Michail Gorbatschow stand dafür. Ja, man dachte sogar daran, den Russen den Vorschlag zu machen, sie in die NATO aufzunehmen. Die damaligen Chancen auf eine stärkere Partnerschaft Russlands mit/in der NATO wurden jedenfalls nicht genutzt, ja man verschmähte entsprechende Angebote, degradierte Russland zu einer Art Entwicklungsland. Und als Putin an die Macht kam, ignorierte man die tschetschenischen Kriege und die Vernichtung der Hauptstadt Tschetscheniens, Grosny, durch die Russen. Wir malten uns den Kreml-Herrn ziemlich schön, seine Rede im Deutschen Bundestag in Berlin 2001 zog alle Parteien in den Bann, er erhielt „standing ovations“. Die Besetzung der Krim brachte den einen oder anderen Demokraten im Westen zu einer Änderung der Meinung über den einstigen Geheimdienstmann Putin, aber das billige Gas, das Deutschland von Gazprom bezog, hielt den Glauben an die Friedensdividende bis zum Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine 2022 aufrecht.
Die NATO wurde nicht aufgelöst, die Nordatlantische Allianz lebt, ihr gehören mittlerweile 32 Mitgliedsstaaten an, seitdem Schweden und Finnland unter dem Eindruck der russischen Bedrohung für Europa dem Bündnis beigetreten sind. Die NATO ist also eher stärker geworden als schwächer. Putin hat sich in dieser Frage getäuscht. Was nicht bedeutet, dass die NATO sorglos ihr Jubiläum feiern könnte. Der jüngste Anschlag Russlands auf ein Kinderkrankenhaus in Kiew lässt niemanden kalt, er zeigt erneut die Brutalität des Krieges, er belegt, dass Putin gnadenlos seinen Krieg gegen die Ukraine führt. Er will mit allen Mitteln verhindern, dass der einstige Bruder in Kiew Teil der westeuropäischen Familie wird, der EU wie der NATO mit Demokratie und freier Wahl. Die Brutalität des Krieges versetzt die anderen Anrainer, Polen zumal, die Balten in Angst und Schrecken, weil sie fürchten, der russische Präsident könnte noch nicht genug seinen Machthunger gestillt haben und nach den Territorien der einstigen Verbündeten greifen.
Die Wolken über dem Treffen der 32 NATO-Staaten in der US-Hauptstadt Washington sind mindestens wolkenverhangen. Die Kosten des Krieges belasten auch die westlichen Staats- und Regierungschefs, sie müssen sich zu Hause die Mehrheiten für immer mehr Kriegsgerät besorgen, die ihre Haushalte überdimensioniert belasten. Einer wie Putin kann per Knopfdruck die eigene Wirtschaft auf Kriegswirtschaft umstellen, was er längst getan hat. Der deutsche Kanzler Olaf Scholz ist eher darauf aus, alles zu tun, damit der Krieg nicht auf das übrige Europa ausgeweitet wird, es soll kein Weltkrieg werden. Deutsche Soldaten, das hat der Kanzler schon garantiert, würden auf keinen Fall in diesen Krieg eingreifen. Aber, das hat er auch mehrmals betont, Russland dürfe diesen Krieg nicht gewinnen. Darüber haben die Staats- und Regierungschefs zu diskutieren, sie müssen dabei einen ungarischen Regierungschef wie Orban aushalten, der eher auf den Beifall Putins aus ist oder den von Chinas Staatschef. Überhaupt wirkt Europa, und damit die NATO, im Moment nicht geschlossen, die politische Entwicklung in Frankreich lässt Zweifel aufkommen an der Stabilität der Gemeinschaft. In vielen Ländern Europas machen Rechtsextremisten Front gegen das westliche Bündnis, sie schauen gern nach Moskau und Putin tut manches dafür, um die Geschlossenheit des Westens auseinander zu treiben.
Scholz vertraut ihm
Und dann ist da noch das Problem Joe Biden, ein Präsident des mächtigsten Staates der Welt, der einem fast leid tun kann. Weil er alt ist und grau und auch so wirkt, einer, der stolpert und stottert, der sich verhaspelt, er ist wie ein Greis, der 81jährige. Dass Scholz ihm vertraut, ist gut und schön, beseitigt aber nicht die Zweifel an der Gesundheit, der Fitness des USA-Präsidenten. Sie alle mögen seine Verdienste um die NATO rühmen, schätzen, wie er sich eingesetzt hat für die Ukraine und dafür, dass das bedrängte Volk Milliarden und Abermilliarden Dollar bekommt, Waffen und Abwehr-Systeme, damit es sich wehren kann gegen den russischen Aggressor. Biden ist gewiss ein glaubwürdiger Vertreter einer Politik der Sicherheit für Europa, das westliche Bündnis. Aber wie lange kann er sich noch behaupten gegen all die Kritik an seiner Person, daran, dass er körperlich wie geistig nicht mehr in der Lage sei, dieses schwierige Amt des USA-Präsidenten mit aller Kraft auszuüben? Sein Gegenspieler Donald Trump versucht ihn lächerlich zu machen, was zeigt, wie menschlich mies dieser Trump ist, ein vorbestrafter Republikaner, der ins Weiße Haus einziehen könnte. Ein Mann, der die Demokratie verachtet, das westliche Bündnis, ein Egomane, der nur sich kennt. Unvergessen der Sturm aufs Weiße Haus vor ein paar Jahren von seinen Anhängern, die offensichtlich von ihm aufgehetzt wurden. Unvergessen, wie er den Sieg von Biden anzweifelte, ohne Beweise vorlegen zu können. Trump gilt als notorischer Lügner, als solcher hat ihn Joe Biden gerade im Fernsehduell mit dem Herausforderer bezeichnet, was diesen aber nicht bekümmert hat.
Europa muss sich auf alles einstellen, auch auf ein Amerika mit Trump an der Spitze. Europa muss dafür sorgen, dass es in der Lage ist, seine Sicherheit selbst zu regeln. Das wird Geld kosten, viel Geld. Und darüber wird es Streit geben innerhalb des Bündnisses, in den Ländern, weil das Geld an anderen Stellen fehlen wird. Es wird fehlen in der Sozialpolitik, in der Infrastruktur, in der Migration, an vielen Stellen. Und es werden Fragen gestellt werden, wie lange dieser Krieg noch dauern soll und die mit ihm zusammenhängenden Fragen der Kosten und der Opfer. Auch wenn Putin der Kriegstreiber ist, darf ein westliches Bündnis wie die NATO sich Gedanken machen über ein Konzept, wie man zu einem Waffenstillstand kommen könnte. Das heißt nicht, dass Kiew sich ergeben müsste. Wie sieht die Rolle von Deutschland aus in einem Bündnis, in dem die USA nicht mehr die allmächtige Führungsmacht sind? Wird Berlin dann noch mehr bezahlen, die anderen Mitglieder bitten, ja drängen müssen, ihren Finanzanteil zu erhöhen?
Die Allianz wird manches in Frage stellen müssen, weil die Kosten uns auffressen. Die Rüstungsausgaben sind explodiert. Weltweit sprechen wir von 2,5 Billionen US-Dollar, die für Waffen jeder Art, fürs Militär, für Kriege ausgegeben werden. An der Spitze stehen die USA mit weit über 916 Milliarden US-Dollar, gefolgt von China mit knapp 300 Milliarden, Russland gibt nach der Liste rund 119 Milliarden US-Dollar aus, die Bundesrepublik liegt an 7. Stelle mit 73 Milliarden US-Dollar. Wahnsinn, angesichts der Bedrohungen der Welt durch den Klimawandel, die Armut und den Hunger in vielen Teilen des Planeten. Was könnte man mit dem Rüstungsgeld nicht alles leisten, wem helfen, verhindern, dass Kinder sterben, dafür sorgen, dass Menschen in aller Welt medizinisch versorgt werden, zu essen und zu trinken, ein Dach über dem Kopf haben?
Die NATO ist eine alte Dame, schrieb die taz, aber trotz aller Zipperlein lebendiger denn je. Seit 1949 hat sie sich fast verdreifacht. 75 Jahre sind eine lange Zeit, aber es ist kein Grund sich auszuruhen. Die NATO ist eine „Rest-Risikoversicherung“ (Holger Möhle im Bonner Generalanzeiger)für Deutschland und Europa. Für unsere Freiheit, unsere Demokratie. Auf sie kann nicht verzichtet werden.