75 Jahren Deutscher Bundestag. Besondere Debatten greift der Blog in lockerer Folge auf.
Beethoven durfte nicht fehlen. Als der frisch gewählte Deutsche Bundestag am Nachmittag des 7. September 1949 erstmals zusammentrat, erklang um 16.05 Uhr die Ouvertüre „Weihe des Hauses“ des im Rheinland aufgewachsenen Musik-Heroen. So festlich eingestimmt wurden 382 Männer und 28 Frauen, die bei den Wahlen am 16. August den Sprung in das Parlament geschafft hatten, in der Turnhalle der ehemaligen Pädagogischen Akademie versammelt. Draußen vor der Akademie drängten sich Tausende Bonner Bürger, um bei regenverhangenem Himmel die Geburtsstunde des neuen Parlamentarismus mitzuerleben. Nur wenige hatten einen Logenplatz ergattert, um von einer Tribüne vor den großen Fenstern des Saals zumindest optisch dabei zu sein.
Dann erklang die klare, erstaunlich frische Stimme des Abgeordneten Paul Löbe. Der in Schlesien geborene Sozialdemokrat, einst Abgeordneter und Präsident des Reichstags, hatte mit 73 Jahren, nur wenige Wochen älter als der rheinische Platzhirsch Konrad Adenauer, die Ehre, als Alterspräsident eine Epoche deutscher Geschichte zu eröffnen.
Gleich zu Beginn seiner Rede setzte Löbe den Rahmen, dem sich das Parlament für den Aufbau der Republik verpflichten sollte. Als erstes sprach er, der als Berliner Abgeordneter nicht direkt vom Volk gewählt, sondern vom Abgeordnetenhaus in den Bundestag entsandt wurde, den Wunsch der Menschen in der „alten deutschen Hauptstadt“ aus, „in dieses neue Deutschland einbezogen zu sein , und die Hoffnung, dass dieser Wunsch durch ihre Arbeit bald seine Erfüllung finde“. Als zweites mahnte er, die Augen der Millionen Deutschen in den „deutschen Ostgebieten“ seien „Erlösung heischend“ darauf gerichtet, dass dieses Parlament die „Wiedergewinnung der deutschen Einheit“ als wichtigste Aufgabe sehe. Und dieses Ziel müsse drittens mit der Versicherung einhergehen, „dass dieses Deutschland ein aufrichtiges, von gutem Willen erfülltes Glied eines geeinten Europas sein will“.
Bravo-Rufe brandeten auf. Das Ziel war gesetzt. Aber schnell war es mit der feierlichen Stimmung vorbei. Als Löbe an die letzte Sitzung des Reichstags und die Zustimmung zum „Hitlerschen Ermächtigungsgesetz“ als illegalen Akt einer „illegalen Regierung“ erinnerte und den damaligen Widerstand dagegen als „patriotische Tat“ wertete, fragte der KPD-Abgeordnete Max Reimann in einem Zwischenruf spitz: „Wie viele Abgeordnete sitzen hier, die dafür gestimmt haben?“
Die Vergangenheit war nicht einfach vorbei. Sie flammte wieder auf, als Löbe noch einmal auf die Abstimmung zum Ermächtigungsgesetz zurückkam und darauf verwies, dass von den 94 SPD-Abgeordneten, die noch in Freiheit waren und gegen das Gesetz gestimmt hatten, 24 diesen Widerstand mit dem Leben bezahlen mussten, kam in Teilen des Parlaments Unruhe auf. Während sich die sozialdemokratischen Parlamentarier in Erinnerung an diese Nazi-Opfer erhoben, schallten Löbe aus anderen Teilen des Hauses Sätze entgegen: „Wir wollen keine Rechnungen aufmachen! Auch von anderen Parteien sind Opfer gebracht worden!“ Was Löbe, wie aus den folgenden Sätzen hervorging, auch gar nicht in Abrede stellte.
Die Stimmung beruhigte sich erst, als der Alterspräsident auf das Elend einging, das Deutschland durch den Krieg den anderen Völkern angetan hatte und das es selbst durch den „nationalsozialistischen Terror“ erlitten hatte. Er erinnerte an Millionen deutschen Kriegsgefangene, an die Not der Frauen, Eltern und Kinder, die auf die Rückkehr der Verschleppten immer noch warteten. Dann bat er die Abgeordneten, sich zu erheben und das stille Gedenken all den Toten zu weihen, „die als Opfer des Krieges von allen Völkern gefordert wurden, all denen, die durch die Fortwirkung des Krieges ihr Leben verloren“.
So bewegend die Worte Paul Löbes über die Opfer des Krieges auf die Zeitgenossen wirkten, so irritierend mutet es heute an, dass in dieser ersten Bundestagssitzung mit keinem Wort der sechs Millionen Juden gedacht wurde, die von den Nazis in Konzentrationslagern in den Tod geschickt wurden. Das war keineswegs ein individuelles Versäumnis des Alterspräsidenten. Der industrielle Mord an Juden wurde in der jungen Bundesrepublik weitgehend verdrängt. Auschwitz war im breiten Bewusstsein der Deutschen damals kein Thema.
Bitter fasste der Kölner Schriftsteller Heinrich Böll dieses Ausblenden des schlimmsten Verbrechens, die Ausrottung der jüdischen Bürgerinnen und Bürger, die größte Schuld nationalsozialistischer Verbrechen Anfang der 50er Jahre in einem Zeitungsartikel für die Kölnische Rundschau so zusammen: „Wir beten für die Gefallenen, für die Vermissten, für die Opfer des Krieges, aber unser abgestorbenes Gewissen bringt kein öffentliches, kein klares und eindeutig formuliertes Gebet für die ermordeten Juden zustande.“
Erstveröffentlichung www.vorwaerts.de
Bildquelle: Bundesarchiv, Bild 102-10562 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 DE , via Wikimedia Commons