Es gibt Tage wie den 6. Juni, der mich Jahr für Jahr an ein Ereignis erinnert, das einmalig war. Der 6. Juni 1944. Ein Tag, der vielen Menschen in aller Welt immer im Gedächtnis bleiben wird. Und an den sich Franzosen Jahr für Jahr erinnern. Der Tag, an dem die Befreiung Europas vom Nazi-Joch eine Wende nimmt, weil Amerikaner, Kanadier, Polen, Engländer, Franzosen und all die anderen Soldaten in der Normandie landen. D-Day, der Tag X, könnte man das ins Deutsche übertragen, wer will kann daraus auch Tag der Entscheidung machen. Tag der Tränen der Freude, weil die verhasste Fremdherrschaft bald zu Ende geht, es folgen Tage des Schmerzes, weil der Sieg über die Tyrannei mit vielen Toten, Verletzten und Zerstörungen verbunden ist. Ein Tag der Erinnerung in ganz Europa.
Über die BBC in London wird in der Nacht zum 2. Juni 1944 eine verschlüsselte Nachricht versendet. Eine Mitteilung in französischer Sprache. „Les sanglots longs de violons de l´automne/Blessent mon coeur d´une langueur monotone..“ Das lange Schluchzen herbstlicher Geigen/Die mein Herz mit langweiliger Mattigkeit verwunden“. Französische Poesie im britischen Rundfunk, Zeilen aus dem Gedicht „Herbstlied“ von Paul Verlaine. Aber diese Zeilen sollen keine Einleitung einer ;Laudatio auf den Dichter Verlaine und sein Werk bedeuten, sondern eine verschlüsselte Botschaft an die Résistance sein, die Widerstandsbewegung im von den deutschen Truppen besetzten Frankreich. Das Signal bedeutet, dass es in Kürze losgehen wird, innerhalb der nächsten 48 Stunden, so die Verabredung, die aber noch einmal verlängert werden muss wegen des einsetzenden schlechten Wetters. Der große Angriff, die Invasion kann beginnen und damit auch die Entlastung für die Ostfront. Der Zweifrontenkrieg, von Stalin lange gefordert, zwingt Nazi-Deutschland schließlich in die Knie.
Von Zwangsarbeitern errichtet
Man stelle sich das Ausmaß vor: Drei Millionen Soldaten sind an der südenglischen Küste versammelt, mehr als 5000 Schiffe liegen in den Häfen am Kanal, 7000 Kampf- und 2000 Transportflugzeuge stehen bereit, 18000 Fallschirmjäger sind auf ihren Einsatz vorbereitet. Hitler und seine Generäle rechnen seit längerem mit einem Angriff der Alliierten, aber sie verkalkulieren sich, sie rechnen mit dem Landungsort Pas-de-Calais-weil die Entfernung von Dover kürzer ist- und nicht mit Cherbourg. Ab 1 Uhr nachts landen Fallschirmjäger hinter den von deutschen Truppen besetzten Linien in der Normandie, zwischen San Mère Église und Caen. Der sogenannte Atlantik-Wall, eine 2700 km lange mit Bunkern und Festungen ausgestattete Linie entlang der französischen Atlantik-Küste, von Hitler als unüberwindbar bezeichnet, kann die Alliierten nicht aufhalten. Der Wall war einst mit Hilfe von Zwangsarbeitern der einheimischen Bevölkerung errichtet worden.
Die Nachricht über die Invasion wird von US-General Dwight D. Eisenhower um 9.30 Uhr über die BBC verkündet, Mittags um 12 Uhr wendet sich der britische Premierminister Winston Churchill in einer Rede an das Parlament, um die Nachricht, auf die das britische Volk lange gewartet hatte, zu verkünden. Um 18 Uhr am Abend folgt die Rede vom General de Brigade, Charles de Gaulle: „Die Entscheidungsschlacht hat begonnen“, erklärt der im Londoner Exil lebende General.
Am Tag der Invasion weilt Generalfeldmarschall Erwin Rommel in der schwäbischen Heimat. Seine Frau hat Geburtstag, überhaupt rechnet man in Deutschland nicht an diesem Tag mit dem Angriff und hat sich zudem mit der Örtlichkeit vertan, die Panzer sind an anderer Stelle stationiert, die Flugzeuge ebenso. Der Führer hält sich in Berchtesgaden auf und verschläft die Invasion, weil er mit Untergebenen und Gästen geredet und gefeiert hat. Erst am Abend wird die deutsche Öffentlichkeit informiert: „In der vergangenen Nacht hat der Feind seinen seit langem vorbereiteten und von uns erwarteten Angriff auf Westeuropa begonnen.“
Am 6. Juni sitzt Bertolt Brecht im kalifornischem Exil, er spielt Schach, als er die Nachricht von der Invasion hört. Brecht hat gerade sein Theaterstück „Der kaukasische Kreidekreis“ zu Ende geschrieben. Unweit von Brecht feiert ein anderer berühmter Deutscher, Thomas Mann, der Deutschland schon in den 30er Jahren verlassen hat, seinen 69. Geburtstag. Mann arbeitet an seinem „Doktor Faustus“. Tags zuvor hat US-Präsident Roosevelt im Rundfunk den Einmarsch alliierter Truppen in Rom bekanntgegeben. Und nun wendet er sich erneut an das amerikanische Volk, um zu verkünden, „that troops of the United States and our allies were crossing the channel.“ Und dann bat der Präsident, in dieser kritischen Stunde „to join with me in prayer..“ Mit ihm zu beten. Die alliierte Invasion trug den Namen „Overlord“. Ernest Hemingway sitzt während der Angriffswelle in einem Boot und wird später darüber berichten.
General als Retter von Paris
Insgesamt dauert die Schlacht in der Normandie drei Monate. Dem Oberbefehlshaber Eisenhower stehen 3 Millionen Soldaten zur Verfügung, darunter neben Soldaten aus den USA, Kanada und den Commonwealth-Ländern auch viele Freiwillige aus Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei, insgesamt 23 Infanterie-, Panzer- und 4 Luftlandedivisionen. Auf deutscher Seite kämpften unter dem Oberbefehl von Generalfeldmarschall von Rundstedt 1,87 Millionen Soldaten. Über die Zahl der Opfer gibt es unterschiedliche Schätzungen. Am Ende soll es eine Million Tote gegeben haben, Soldaten und Zivilisten, 180000 Häuser sind zerstört. Ende August folgt die Befreiung der französischen Hauptstadt. Dass Paris entgegen den ausdrücklichen Befehlen von Hitler und Himmler nicht zerstört wird, liegt am Mut des Generals Dietrich von Choltitz, der die Anrufe und Befehle von Himmler(Brennt Paris?) nicht befolgt, sondern sich am Ende mit Hilfe eines schwedischen Freundes in die Hände der Résistance begibt, sonst hätten die Nazis ihn umgebracht. Jahrzehnte später salutieren französische Offiziere, als der einstige Retter von Paris, Dietrich von Choltitz, 1966 in Baden-Baden beerdigt wird.
Heinrich Böll ist schwer verwundet und erlebt den 6. Juni in einem ungarischen Lazarett. Seiner Frau Annemarie schreibt er einen Tag danach: „Das ist ein unglaublich wichtiges Ereignis, diese Invasion, das kann wirklich zur Entscheidung des Krieges noch in diesem Jahr führen; wäre es nicht toll, wenn uns endlich einmal ein Zeichen vom Beginn des Endes leuchten würde; ach dieser wahnsinnige, verbrecherische Krieg muss bald zu Ende gehen!“ Für alle Gegner und Verfolgten des Nazi-Regimes bedeutet die Nachricht von der Invasion Hoffnung auf Freiheit, Leben, Überleben. In Dresden sehnt der Romanist Victor Klemperer, ein Jude, auf ein Ende der Tyrannei. Er leistet Zwangsarbeit, fürchtet eine Deportation in ein KZ. In seinen Tagebüchern(Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten) schreibt er am 8. Juni:“ Ich kann nichts mehr hoffen, es ist mir fast unvorstellbar, das Ende dieser Tortur, dieser Sklavenjahre zu erleben.“ Klemperer stirbt 1960 in Dresden.
Quellen:
Deutschlandfunk: Hochdramatisch war der Tag. Der D-Day in der Literatur.
Heinrich August Winkler: Geschichte des Westens.