Von der „Studentenbewegung“ zur „außerparlamentarischen Opposition“
Die „Studentenbewegung“ engagierte sich neben der Hochschulpolitik – wie dargestellt – immer stärker bei innen- und außenpolitischen Themen und stand dabei in Opposition zu dem von den Parteien im Parlament vertretenen Meinungsspektrum. Zumal aufgrund der Kritik an der Großen Koalition und wegen der dadurch entstandenen Schwächung der innerparlamentarischen Opposition sprach man deshalb immer häufiger von einer „außerparlamentarischen Opposition“, die sich dann später auch selbst „APO“ nannte.
Diese APO war allerdings alles andere als eine einheitliche Bewegung. Es war auch keineswegs so, wie das vielfach dargestellt wird, dass der SDS die Speerspitze der Studentenbewegung bildete. So stellte z.B. der SHB Ende 1967 fünf AStA-Chefs an den politisch bedeutendsten Hochschulen, der SDS keinen einzigen AStA-Vorsitzenden. (Jeanette Seiffert, a.a.O. S. 79)
Wollte man die Gruppen, Grüppchen, Aktivisten oder Sekten der APO grob kategorisieren, so gab es einmal die innerparteilichen Oppositionsgruppen, die in Opposition zur Politik der Parteispitzen standen, als da waren: SHB, Teile der Jungsozialisten, Gewerkschaftliche Arbeitskreise innerhalb der SPD, der LSD und Teile der Jungdemokraten (DJD) innerhalb der FDP und Teile der Jungen Union gegenüber ihrer Mutterpartei.
Zum anderen gab es eine vorparlamentarische Opposition. Darunter fielen sozialistische Gruppen, die Anstrengungen unternahmen aus den versprengten Resten der Arbeiterbewegung, der sozialistischen Jugend, linken Studenten und Professoren eine neue linke Partei zu bilden. (Was übrigens nicht die dann 1968 gegründete DKP war.)
Dazu gehörten: Der Sozialistische Bund (SB), Vereinigung unabhängiger Sozialisten (VUS), Arbeitsgemeinschaft Sozialistischer Opposition (Marburg), Teile des SDS (Köln, München, Marburg), die Deutsche Friedensunion (DFU). Viele dieser Organisationen haben sich unter einem Dachverband, dem Sozialistischen Zentrum, zusammengefunden.
Dazu zählten auch weitere Parteigründungen und –gründungsversuche. So etwa der Initiativausschuss zur Wiederzulassung der KP oder die Demokratische Linke (DL) in Baden-Württemberg, die sich 1967 für die ein Jahr später stattfindende Landtagswahl gegründet hatte.
Drittens gab es die außerparlamentarische Opposition im engeren Sinne:
Das waren solche Gruppierungen, die unfreiwillig zu ‘Außerparlamentariern‘ wurden, wie etwa der von der SPD verstoßene SDS und dessen Fördererorganisation, der Sozialistische Bund (SB).
Dazu zählten weiter Kräfte, die freiwillig im vorparlamentarischen Raum zur Willensbildung innerhalb der Gesellschaft beitragen wollten, etwa
die Republikanischen Clubs (RC), der Fränkische Kreis, die Humanistische Union (HU), darüber hinaus die Sammelbewegungen, wie das „Kuratorium Notstand der Demokratie“, die „Kampagne für Abrüstung und Demokratie“ (KfA) und andere mehr.
Viertens konnte man noch die “Studentische Protestbewegung“ unterscheiden, die antiautoritär, antirepressiv und radikaldemokratisch wirken wollte. Sie stellte eine „formal lockere, inhaltlich einheitliche, öffentlich arbeitende Organisation“ dar, die sich primär mit politischer Agitation beschäftigte. Sie strebte – getreu der Randgruppentheorie Herbert Marcuses – die Politisierung der jeweils “temporär schwächsten Glieder des Systems“ an, von der Universität über die Schüler bis hinein in die Betriebe. Ihr gehörten Teile des SDS (vor allem in Berlin und Frankfurt), die Sozialistischen Schülerbünde (AUSS) und andere informelle Gruppierungen an.
Schließlich gab es Gruppen und Grüppchen, die sich einer mehr oder weniger “bestimmten“ Weigerung verschrieben haben, nämlich Provos, Hippies, Kommunarden u.a., die oftmals und bis heute durch ihre spektakulären Aktionen und ihr Auftreten die größte öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zogen.
Und natürlich gab es einzelne Persönlichkeiten die sich der außerparlamentarischen Opposition zugehörig oder sie zumindest verteidigt haben. Sie traten publizistisch und vor allem auch bei Vietnam-Kongressen, bei Protesten gegen die Notstandsgesetze oder gegen die Große Koalition in Erscheinung. Dazu gehören etwa Ernst Bloch, Heinrich Böll, Wolfgang Abendroth, Herbert Marcuse, und anfänglich noch Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und viele andere mehr.
So vielfältig die theoretischen oder weltanschaulichen Positionen auch gewesen sein mögen und so sehr sich ihre „Führungspersonen“ auch gegenseitig bekämpft haben mögen, Einigkeit bestand im Widerspruch und im latenten oder auch offenen Misstrauen gegenüber allem, was zum sog. „Establishment“ gerechnet wurde. Dieser Widerspruch und dieses Misstrauen führten anfänglich spontan zu Widerstand gegen die Großen Koalition, gegen die Notstandsgesetze, gegen den Krieg der USA in Vietnam und mehr und mehr (jedenfalls bis zu den Demonstrationen nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke) in eine kooperative, oft sogar planmäßige „Strategie der direkten Aktion“ (Michael Vester).
Mein Rückzug nach Köln
Nach meinem Ausscheiden aus dem Fulltime-Job als Geschäftsführer des SHB wurde ich die ständigen Anforderungen aus dem Bonner Büro nicht los. Nachdem ich bis dahin zwar viele Hochschulen in der Republik zu SHB-Veranstaltungen, aber nur sporadisch eine Uni zu fachlichen Vorlesungen besucht habe, wollte ich – so habe ich damals ironisch gesagt – nach meiner „revolutionären Phase auch endlich etwas für meine bürgerliche Existenz“ tun. Der stellvertretende Bundesvorsitz verlangte keine Residenz in Bonn, also zog ich im Frühsommer 1966 nach Köln in eine Bude in der Gustavstraße in Köln-Sülz. Das Zimmer lag direkt über einer echt kölschen Eckkneipe, dem „Gustav Eck“. Hier konnte ich noch hautnah kölsches Arbeitermilieu miterleben: So gegen halb fünf Uhr nachmittags kamen Frauen in die Kneipe und etwas später kamen deren Männer von der Arbeit dort an. Es wurden nach Feierabend ein paar Kölsch getrunken und dann schleppten die Frauen ihre Männer manchmal ziemlich lautstark und oft in recht grober Sprache zum Abendbrot nach Hause. Sonst hätten sich die Männer wohl noch mehr volllaufen lassen.
Köln war gemessen am „roten“ Berlin, wo ich immer noch häufiger hinreiste, noch stark von rheinisch-katholischen Moralvorstellungen geprägt. So war ich völlig perplex, dass im Marsilius-Bad, wo ich mich mangels heimischer Dusche wöchentlich ein- bis zweimal grundreinigte, die jungen Männer sich unter der angezogenen Badehose einseiften. Im Kölner AStA-Sozialreferat mussten Studentinnen noch nach „Geheimlisten“ von Ärzten fragen, die (verbotenerweise) unverheirateten Frauen die Anti-Baby-Pille verschrieben. Der Kinsey-Report über das Sexualverhalten war im „hillije Kölle“ noch nicht angekommen.
Ich trat im Sommersemester 1966 der SHB-Gruppe an der Kölner Uni bei und war dort, aufgrund meiner Erfahrungen im Bonner Bundesvorstand schon eine Art „Veteran“. Die Kölner SHB-Gruppe, der nachgesagt wird, dass sie die älteste Gruppe dieses Studentenverbandes war, war damals ein kleines Häuflein und es ging zunächst einmal darum neue Mitglieder zu werben.
In Köln fand im Oktober 1966 zwar an mehreren Tagen hintereinander die größte und vehementeste Demo der Nachkriegszeit in der Domstadt statt. Es ging gegen eine geplante Fahrpreiserhöhung für die Straßenbahn um über 50 Prozent, bei der 6.000 Schüler und Studenten den Verkehr blockierten. Das war jedoch kein politischer Protest im engeren Sinne, sondern eher eine öffentliche Empörung gegen eine bestimmte Maßnahme und keine Aktion, die man der Studentenbewegung im engeren Sinne zurechnen konnte. Gemessen an Berlin, Hamburg, Frankfurt, Marburg, Heidelberg oder München blieb Köln „ein Mauerblümchen des Protests“. »Berlin brennt, Köln pennt«“, hieß es damals.
Klaus Laepple vom Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS), später ein erfolgreicher Unternehmer und Spitzenfunktionär in der Tourismusbranche, war von 1965 bis 1968 sozusagen der „ewige“ AStA-Chef. Im 50-köpfigen Studentenparlament dominierten die „Unabhängigen“, der Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) zusammen mit Mitgliedern von „akademischen Verbindungen“ und „Corps“ wie „Rappoltstein im CV“, „Franco-Guestphalia“, „Silesia Breslau“ etc. und der Katholische Studenten-Gemeinde.
Laepple, der die Straßenbahndemo für die minderjährigen Schüler anmeldete, ging in die Justizgeschichte ein. Der Bundesgerichtshof für Strafsachen stufte die Sitzblockade als Ausübung „psychischer Gewalt“ ein, weil der Fahrer einer Straßenbahn durch das Sitzen der Demonstranten auf den Schienen einem „unwiderstehlichen Zwang“ ausgesetzt sei. Erst in den siebziger Jahren hob das Bundesverfassungsgericht die ergangenen Urteile wegen Nötigung auf.
Bei der studentischen Linken war in Köln der SDS am stärksten. Er hatte in Uni-Nähe in der „Palanterstrooß“ im Hinterhof in einer aufgelassenen Werkstatt sein Hauptquartier. Die führenden Leute, also etwa Bernd Hartmann, Herbert Lederer, Peter Bubenberger oder Peter Simon, waren marxistisch orientiert und verteidigten sogar in vielen Punkten die Politik der SED.
Die Kölner SHB-Gruppe, entwickelte sich nach links und ging zusammen mit dem gewerkschaftlichen Hans-Böckler-Kreis immer häufiger auch Bündnisse mit dem SDS ein.
Vom Sommersemester 1966 an kandidierte ich an der „JurFak“ für das Studentenparlament. Da ich mich auf einigen „Teach-ins“ zu Wort gemeldet hatte, war ich einigermaßen bekannt und zog die meisten Stimmen in meiner eigentlich eher rechts ausgerichteten Fakultät auf mich. Für das Studentenparlament galt ein reines Personenwahlrecht. Die Stimmenhäufung war mir deshalb gar nicht so recht, weil ich damit anderen linken Bewerbern die Stimmen wegnahm. „Der Lieb, der Lieb, der Stimmendieb“ reimte Ute Kelter von den Unabhängigen. Die „Basisgrüppler“ Wolfgang Hippe und Anne Lütkes (später stellvertretende Ministerpräsidentin in Schleswig-Holsten und Regierungspräsidentin in Düsseldorf) gründeten die „Republikanische Rechtshilfe“ und das Projekt einer „Kritischen Universität“.
1966 betrug die Wahlbeteiligung bei den Wahlen zum Studentenparlament bisher unerreichte 62 Prozent, nicht weil die Studentenschaft politisch so aktiv war, sondern weil ein „rubinroter VW Käfer 1300“ verlost wurde.
Die Erschießung Benno Ohnesorgs im Juni 1967 schockierte eine ganze Generation und mobilisierte auch die bis dahin eher unpolitische Jugend im Rheinland. In Köln kam es zu einer ersten großen politischen Demo, die eine breite Unterstützung fand. 95 Wissenschaftler protestierten mit einer Anzeige im Kölner Stadt-Anzeiger gegen den Polizeieinsatz in Berlin. Der Rektor gab aus Anlass der Protestkundgebung vorlesungsfrei. Hauptredner war der damals noch als linksliberal geltende Kölner Soziologieprofessor Erwin K. Scheuch (der im Herbst 1970 zu einem der Mitbegründer des reaktionären „Bundes Freiheit der Wissenschaft“ wurde). Peter Bubenberger als Sprecher des SDS wurde ausgepfiffen. Die Demo war zunächst als Schweigemarsch geplant, danach flogen allerdings Eier auf das damalige Amerika Haus in der Apostelnstraße.
1967 war ich eine Zeit lang studentisches Mitglied der Fakultätsversammlung der Juristen. Die Fakultätssitzungen hatten für mich etwas Groteskes an sich. In der Reihenfolge der Redner galt offenbar das Anciennitätsprinzip. Fast bei jedem Tagesordnungspunkt hatte zuerst der schon1895 geborene und schon im Nationalsozialismus einflussreiche Doyan des deutschen Arbeitsrechts Hans Carl Nipperdey das Wort. Er redete sybillinisch, so dass sich die nachfolgenden Diskutanten selbst mit gegensätzlichen Positionen auf Nipperdey beziehen konnten.
Die Studenten wurden nur zu solchen Tagesordnungspunkten zugelassen, die studentische Angelegenheiten betrafen. Einmal wurde ich des Saales verwiesen, weil ich mir die Bemerkung erlaubte, dass ich im Gegensatz zu den Professoren als studentischer Vertreter ein demokratisches Mandat besäße.
Die Linke konnte zunächst gegen die 1967 von katholischen Korpsstudenten (AV Rheinstein) gegründete liberal-konservative Aktion 67/Kölner Studentenunion (KSU), der z.B. Norbert Rüther (lange Jahre SPD-Fraktionsvorsitzender im Kölner Rat), Elmar Brok (heute noch Europapolitiker) oder Thomas Köster (lange Hauptgeschäftsführer der Handwerkskammer Düsseldorf) angehörten, nicht viel ausrichten. Die Aktion 67 holten aus dem Stand 16 der 50 Sitze im Studentenparlament. Die KSU war etwas liberaler als der Ring Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) und setzte sich für mehr studentische Mitbestimmung ein. Sie legte sich nach einem Jahr den Beinamen Soziallliberaler Hochschulverband (SLH) zu. Diese Gruppierung kämpfte allerdings gegen alle provokanten Aktionen der Linken. Der SHB spottete: „Unpolitisch macht uns froh – wir sorgen für das saubere Klo…“ (Jeanette Seiffert, a.a.O. S. 88)
Ende des Jahres kam es zu einem heftigen Konflikt mit der Hochschulverwaltung, weil das Studentenparlament einstimmig beschloss, dem damaligen AStA-Chef Klaus Laepple die Kosten aus den KVB-Demos aus dem AStA-Haushalt zu erstatten.
Noch heftiger wurde der Streit mit dem Kanzler der Uni wegen des geltenden Verbots von Herrenbesuchen in Studentinnenwohnheimen ausgetragen.
1968 gab es dann erstmals eine Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Studentenparlament. Zwar blieb Klaus Laepple zunächst AStA-Vorsitzender, sein Stellvertreter wurde aber Bernd Peterson vom SDS und Steffen Lehndorff vom SHB wurde Politikreferent. Im Frühjahr 1968 wurde dann Bernd Peterson, zum AStA-Vorsitzenden gewählt und Steffen Lehndorff wurde stellvertretender AStA-Vorsitzender. Gerhard Bosch (SHB) folgte ihm als Politreferent nach.
Steffen Lehndorff, Arbeits- und Arbeitszeitforscher. Seine Forschungsinteressen konzentrieren sich auf die Veränderung der Arbeitszeit- und Beschäftigungsstrukturen sowie auf die industriellen Beziehungen im internationalen Vergleich. Lehndorff promovierte Ende der 1970er-Jahre über Gewerkschaften und Tarifpolitik. Nach verschiedenen politischen Funktionen ging er 1992 ans Institut Arbeit und Technik (IAT) im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen, dort leitete er den Bereich Arbeitszeitforschung. Ab 2007 war er Abteilungsleiter „Arbeitszeit und Arbeitsorganisation“ des neu gegründeten Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen.
Gerhard Bosch, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, arbeitete an der Sozialforschungsstelle Dortmund, an der Universität Bielefeld (wo ich mit ihm in einem gewerkschaftlichen Forschungsprojekt zusammenarbeitete), beim Bundesvorstand des DGB in Düsseldorf, am Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts des DGB, 1993 wurde er Professor an der Universität Duisburg-Essen, stellv. Direktor das Instituts Arbeit und Technik (IAT) im Wissenschaftszentrum NRW in Gelsenkirchen, danach bis 2016 geschäftsführender Direktor des Instituts Arbeit und Qualifikation (IAQ) an der Universität Duisburg-Essen.
In der Nacht zum Ostersonntag nach dem Anschlag auf Rudi Dutschke blockierten Demonstranten die Auslieferung der Bild-Zeitung, die in der Druckerei DuMont gedruckt wurde. Die Bereitschaft des Verlegers Alfred Neven DuMont, mit den Studenten zu diskutieren kostete den Verlag den Druckauftrag von Springer. Wenige Tage danach, am 17. April 1968, versammelten sich 1200 Studenten zu einem Teach-in im Kölner Audimax. Alle diese Aktionen riefen den Widerstand der in ihrer großen Mehrheit unpolitischen und eher konservativ ausgerichteten Kölner Studierenden hervor. So dass der linke SDS-AStA schon im Spätherbst 1968 von der KSU mit Thomas Köster als AStA-Vorsitzendem wieder abgelöst wurde.
Am 11. Mai 1968 brachte der Sternmarsch auf Bonn 60.000 Demonstranten gegen die „NS-Gesetze“ – wie sie jetzt unter Anspielung auf den Nationalsozialismus propagandistisch genannt wurden – auf die Beine. Unter dem Schlachtruf „Fürchteeet Eujiich nicht“ zogen drei Marschkolonnen zum Bonner Hofgarten. Am Ende der Kundgebung rief Heinrich Böll zu friedlichen Aktionen auf:
„Sollte es zur Verabschiedung kommen, so lassen Sie sich nicht zu gewalttätigen Aktionen hinreißen oder verleiten. (Protest, Buhrufe, Beifall. Böll leise: ‚Ja, pfeift nur’.) Sie müssen sich verständlich machen – so artikulieren, dass die Gesellschaft, die Sie verändern wollen, zum Gespräch gezwungen wird.“
Enttäuschend für uns linke Studenten war jedoch, dass nur einzelne Gewerkschafter diesen Protest unterstützt haben, während der DGB zu einer Parallelveranstaltung noch Dortmund gerufen hat. Die Hoffnung der protestierenden Studenten, dass die Gewerkschaften – ähnlich wie in Frankreich – zu einem Generalstreik aufrufen würden, wurde bitter enttäuscht. Im Vergleich zum Mai 68 in Frankreich blieb es in Deutschland sehr ruhig. Die Gewerkschaften betrachteten es als Erfolg, dass neben der Notstandsverfassung in Art. 20 GG ein vierter Absatz eingefügt wurde, der gegen denjenigen, der es unternimmt, die verfassungsmäßige Ordnung zu beseitigen, ein Widerstandsrecht einräumt.
Vor der Verabschiedung der Notstandsgesetze fanden noch mehrere Vollversammlungen auch unter Beteiligung Kölner Professoren (u.a. der Philosoph Karl-Heinz Volkmann-Schluck und der Jurist Ulrich Klug) statt, außerdem wurde ein Streik organisiert.
Außerhalb der Hochschule gab es in Köln selbstverständlich auch noch Zentren mit politischen Veranstaltungen, so etwa der „Republikanische Club“ am Römerturm, der „Club International“ mit seinen „Mittwochsgesprächen“ oder das durch Dorothee Sölle bekannt gewordene „Politische Nachtgebet“ in der Antoniterkirche auf der Schildergasse.
Bemerkenswert war, dass anlässlich von drohender Kurzarbeit beim Automobilhersteller Ford am 24. Mai 1968 im Hörsaal 1 erstmals an der Kölner Universität eine gemeinsame Veranstaltung von Studierenden und Arbeitern stattfand, auf der neben Vertretern der Vertrauensleute und dem Betriebsrat von Ford auch Gewerkschafter aus Bochum und Frankfurt redeten. Es gehörte zu den Kölner Besonderheiten, dass die linken Studenten sich um Gemeinsamkeit mit den Gewerkschaften bemühten. Man sprach anlässlich einer solchen Zusammenarbeit geradezu von einem „Kölner Modell“. Das war wohl auch der Ausgangspunkt für eine sog. „gewerkschaftliche Orientierung“ des nicht antiautoritären und nicht maoistischen Flügels der Studentenbewegung, also vor allem des SHB und später des Marxistischen Studentenbundes Spartakus. Ausgangspunkt für die Gewerkschaftliche Orientierung war die Einordnung der Wissenschaft als Produktivkraft. Praktisch hieß das, dass der Ausgangspunkt der politischen Aktivitäten an der Hochschule die unmittelbaren materiellen Interessen der Studierenden als potentielle (akademische) Facharbeiter sein sollten und deshalb ein gewerkschaftliches Bewusstsein geweckt werden sollte.
Das war sicherlich auch der Anstoß, warum ich damals in die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) eingetreten und bis heute Mitglied geblieben bin.
Am 28. Mai fand auf dem Kölner Neumarkt nochmals eine Demonstration mit Schülern und Studenten gegen die Notstandsgesetze statt, die etlichen Schülern Schulverweise wegen „Schwänzens“ des Unterrichts eintrug.
Am 30. Mai 1968, dem Tag als der Deutsche Bundestag die Notstandsgesetze beschließen sollte, hatte der antiautoritäre Flügel des SDS aus Protest gegen die Notstandsgesetze das Hauptgebäude verbarrikadiert und die Uni in „Rosa Luxemburg Uni“ getauft.
Die „Linke“ war am Abend davor bis tief in die Nacht hinein im SDS-Zentrum versammelt und diskutierte stundenlang mögliche Protestmaßnahmen gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze. Irgendwann weit nach Mitternacht kamen die „Spontis“ um Lothar Gothe und Rainer Kippe in den Raum gestürmt und erklärten die Uni für geschlossen. Sie hatten mit ihren Aktivisten vor dem Hauptgebäude eine Barrikade errichtet und auch die Türschlösser verlötet.
Die Tat siegte über das Diskutieren.
Gothe und Kippe gründeten später die Sozialistische Selbsthilfe Köln (SSK), eine verdienstvolle Hilfsgruppe für geflohene Fürsorgezöglinge.
Am nächsten morgen gab es Aufruhr vor dem Haupteingang. Vor allem das Hauptgebäude war beherrscht von den WISO-isten und den Juristen – die ja traditionell zu den ausgesprochen braven und politisch eher konservativen Studierenden gehörten. Anders als in Berlin gab es in Köln eine große Anzahl von „Fahrstudenten“ die morgens mit dem Zug vom Umland anreisten und nachmittags wieder weg waren. Sie gingen ihrem Studium nach, wie andere ihrem Beruf. Sie wollten in ihre Vorlesungen oder Seminare und gingen mit Wasserspritzen und Kalkstaub gegen die Barrikade vor.
Der rechtsradikale Byzantinist, Professor Berthold Rubin (er war 1962 zum Gedenken an Rudolf Heß – dem zweiten Mann hinter Hitler – mit dem Fallschirm in Schottland abgesprungen), wollte unter dem Schlachtruf „Es lebe das Vierte Reich“ mit Farbbeuteln die Schande der Inschrift „Rosa Luxemburg Universität“ tilgen . Darüber hinaus versuchte er mit einer Lötlampe die Barrikade anzuzünden (Wolfgang Hippe, Streiks an der Uni Köln)
Als man wieder ins Gebäude kam fand im Audimax eine spontane Versammlung statt. Die Stimmung war sehr aufgeheizt, die große Mehrheit im Saal war wegen der Absperrung der Hochschule aufgebracht. Die linken Wortführer kamen erst gar nicht zu Wort bzw. ihre Redebeiträge gingen im Protest unter. Ich hatte mich auch gemeldet und ich habe es tatsächlich geschafft, Gehör zu finden. Die erste Zeit habe ich – bewusst oder nicht – ziemlich leise gesprochen, das hat jedenfalls irgendwie zur Beruhigung beigetragen und ich konnte ein Stück weit um Verständnis für die Protestaktion gegen die Notstandsgesetze werben. Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich unter Anspielung auf diese Verfassungsänderung Bertolt Brecht zitierte: „Nur die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber“.
Als wäre die Stimmung nicht schon aufgeheizt genug gewesen, lud der RCDS wenige Tage nach Verabschiedung der Notstandsgesetze Innenminister Ernst Benda in die Kölner Uni ein. Eine Veranstaltung, die dann eher zu einem Happening geriet.
Am 23. November 1968 kam es über den Streit über eine neue Disziplinarordnung „zu einem aufrechten Gang durch die Glastür“, wie es hieß, nämlich zur Besetzung des Rektorats, so dass der Senat an einem geheimen Ort tagen mussten. Mit dieser Aktion sollte die Forderung nach mehr Öffentlichkeit und mehr Transparenz unterstrichen werden. Der Universitätssenat musste zusammen mit den studentischen Vertretern Klaus Laepple und Thomas Köster ins Max-Planck-Institut für Züchtungsforschung außerhalb der Stadt flüchten. In einer Versammlung fand eine Abstimmung per Hammelsprung statt, bei der sich immerhin ein Mehrheit von 939 für und 746 gegen die Besetzung aussprachen. (Jeanette Seiffert, a.a.O. S. 94)
Diese Besetzung hat mir eine Strafanzeige wegen Verdachts der gemeinschaftlichen Nötigung (Rektoratsbesetzung), Hausfriedensbruch und eine Vorladung zum 23. Juli 1969 um 8.00 Uhr beim politischen Kommissariat der Polizei in Köln, dem damaligen K 14 eingebracht.
Die Vernehmung durch einen Polizeibeamten war kabarettreif, wenn es nicht ziemlich ernst gewesen wäre. Der mich vernehmende Kommissar hatte offenbar eine Mitschrift aus einem Teach-in (es wurde also mitgeschnitten) vorliegen und hielt mir zahlreiche Zitate vor, wonach ich zur Anwendung von Gewalt aufgerufen haben soll. Ich habe offenbar bei meinem Diskussionsbeitrag vielfach Herbert Marcuse zitiert, der eben von gegebener „struktureller Gewalt“ durch das „herrschende System“ spricht, wogegen ein „Naturrecht auf Widerstand“ bestehe, das die Anwendung außergesetzlicher Mittel erlaube. Diese Unterscheidung zwischen „emanzipatorischer“ und „repressiver Gewalt“ war dem Beamten natürlich fremd. Er las mir ein Versatzstück nach dem anderen vor, indem es um Gewalt ging. (Ich habe weiter oben schon eingeräumt, dass ich kein überzeugter Anhänger dieser Theorie war und die von vielen als legitim betrachtete „Gewalt gegen Sachen“, ablehnte, dennoch hat man halt solche theoretischen Versatzstücke zitiert.)
Man konnte mir ja viel vorhalten, aber an der Rektoratsbesetzung war ich nun wirklich nicht beteiligt, schließlich stand ich ein paar Monate vor dem Jura-Examen und war im Lernstress. Das Ermittlungsverfahren wegen der Rektoratsbesetzung wurde schließlich nach § 153 Abs. StPO eingestellt. In dem Einstellungsschreiben hieß es aber am Schluss „obgleich ein Verschulden Ihrerseits vorliegt“. Ich habe lange überlegt, ob ich gerichtlich gegen diesen Halbsatz hätte vorgehen sollen, weil ein solcher Vermerk in einer Personalakte sicherlich nicht förderlich war.
Bildquelle: Wikipedia, DHM, Von unbekannt – , PD-Schöpfungshöhe, https://de.wikipedia.org/w/index.php?curid=3202638
Aus all den wissenschaftlichen und publizistischen Arbeiten, Artikeln, Dokumentationen und Kommentaren zu 1968 und den `68ern im Fernsehen und Funk, in online-Medien, Presse, Literatur zu 1968 und den 68ern ragt diese Serie von Wolfgang Lieb heraus, da sie die Innensicht hat, die Akteure und Prozesse in und zwischen den Organisationen und nicht nur die Berühmtheiten und spektakulären Ereignisse zeigt, gleichzeitig persönlich und öffentlich ist, die bildungspolitische Dimension mit der wachsenden allgemeinpolitischen Relevanz verbindet, und mehr.
Bei der Lektüre wird offensichtlich, wie ungerecht, dumm oder bösartig Etiketten sind, die von AFD und leider auch von vielen Jüngeren den `68ern angeheftet werden. Im Vergleich sieht man die Oberflächlichkeit und die „Gewolltheit“ von vielem, was heute zu `68 geschrieben und gesagt wird.
Hoffe er macht das zu einem Buch, das gleichzeitig Komplement oder Gegenthese zu laufende sowie Quelle für neue Veröffentlichungen ist.