Warum kommt mir das Datum jetzt erst wieder in den Kopf, dieser 4. November 1989, der Tag, an dem sich der Alexanderplatz in Berlin mit so vielen Demonstranten füllte? Einige hunderttausend, vielleicht sogar eine Million Menschen waren es, die an diesem Tag dort waren, um der DDR gemeinsam und hoffnungsvoll nachzusinnen. Sie wurde im Rankenwerk der späteren Einheit eine Ranke, die schnell verwelken sollte. Es war die größte freiwillige Demonstration für eine demokratische DDR, und es blieb auch die einzige, für das Rettungswerk DDR einzustehen, die auf der Grundlage der Artikel 27/28 der Verfassung der DDR von einer Gruppe Künstler beantragt und dann offiziell genehmigt wurde.
Die Demonstranten auf dem Alexanderplatz hatte die Hoffnung zusammengeführt, den Staat DDR zu erhalten, ein Beispiel dafür geben zu können, dass ein freiheitlicher sozialistischer Staat möglich sei und in Frieden gedeihen könne. Wie man weiß, erfüllten sich die Hoffnungen dieses Tages nicht, sie kamen zu spät. So blieb diesem Datum fast keine Erinnerung und dennoch lohnt es, dem nachzuspüren.
Das Bewusstsein, als Bürger der DDR vielleicht auch etwas verlieren und gewinnen zu können, war wohl nur auf dem Alexanderplatz lebendig, und hatte für den Einigungsvertrag zwischen BRD und DDR keine weitere Bedeutung. So verwundert es nicht, dass der unter der Leitung des damaligen Kanzleramtsministers Wolfgang Schäuble und des Parlamentarischen Staatssekretärs der DDR, Günther Krause, ausgehandelte Einigungsvertrag faktisch nur den Anschluss der DDR an die Bundesrepublik vollzog.
Die Einwohnerschaft der DDR dagegen verschmolz in die nach der Einheit um etwas über 16 Millionen Menschen gewachsenen Bundesrepublik. Beide deutsche Staaten hatten es zuvor versäumt, die Nazi-Vergangenheit als kollektive Schuld der Deutschen zu begreifen, und sich aufzumachen, jeden Rückfall in Kategorien des braunen Terrors zurückzuweisen und auf immer zu verabschieden. Die Führung der DDR nach der Staatsgründung 1949 gab sich überzeugt, wie schon zuvor Moskau und Vasallen, dass der Nationalsozialismus nur als Ergebnis kapitalistischen Wirtschaftens erklärt werden könne. Selbst der Bau der Mauer wurde als notwendig empfunden – ein dringend gebrauchter „antifaschistischer Schutzwall“.
Wie sehr aber beide Staaten einer antifaschistischen Entgiftung bedurften, im Alltag von der Umgangssprache bis zum weiter aktivem deutsch-nationalem Denken, zeigte sich, als der Jubel über die Einheit abebbte, und sich nicht nur im Westen, sondern auch in der DDR rechtsextremistische und antisemitische Strukturen zeigten. Seit dem Mauerfall werden über 200 Todesopfer rechter Gewalt in Ost und West gezählt. Mit der AfD schaffte eine rechtsextreme Partei wieder den Sprung in den Bundestag. Erneut lassen Rednern der AfD im Plenum des Bundestages rechtsextrem vergiftetes menschenfeindliches Kauderwelsch hören, und eine ausgelaugte CDU/CSU sitzt heute verbittert auf den Oppositionsbänken, statt darüber nachzudenken, wie sie auch außerhalb der Regierungsverantwortung dabei helfen kann, eine neue Form parlamentarischen Miteinanders zu entwickeln.
So endeten 16 Jahre der Kanzlerschaft von Angela Merkel, bei der man nie genau wusste, welche Überzeugungen sie antrieben, wohin und in welche Richtungen sie das Land manövrieren würde. Sie war nur einmal weit über sich hinausgewachsen, als sie in den Jahren 2015/16, mehr als eine Million Flüchtlinge über die Grenze nach Deutschland einreisen ließ. Ihr Satz „Wir schaffen das“, wird als Metapher ihrer Regierungszeit überleben. Allerdings wächst seither die Zahl rechtsextremer Überfälle auf Flüchtlingsunterkünfte wieder, täglich ist von Mordandrohungen zu lesen. Hassmails füllen die Nachrichtenspalten im Netz. Der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist jetzt mehr als 30 Jahre her; unterdessen ist ein weiteres Kapitel Nachkriegsgeschichte geschrieben. Von den Demonstranten damals auf dem Alexanderplatz haben vielleicht manche ihren Frieden gemacht mit dem Land, das sie sich damals anders vorgestellt hatten. In den teilweise immer noch „neu“ genannten ostdeutschen Ländern Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt ist heute die AfD die stärkste Oppositionspartei in den Parlamenten. Das kann sich ändern. Es sollte sich ändern.