Die Premiere hatten sie sich anders vorgestellt. Als die Grünen nach der Bundestagswahl am 6. März 1983 zur ersten Sitzung des neugewählten Parlaments in den Plenarsaal einzogen, sollte einer der ihren als Alterspräsident die Legislaturperiode eröffnen. Doch ausgerechnet die selbsternannte „Antiparteienpartei“ hatte die braune Vergangenheit eingeholt, die sie manchen Repräsentanten der Altparteien zu Recht vorwarfen. Wenige Tage vor der konstituierenden Sitzung am 29. März platzte für die neue Fraktion ein Traum.
Werner Vogel, ehemaliger Ministerialbeamter in der Düsseldorfer Landesregierung, Spitzenkandidat auf der grünen NRW-Landesliste, Vorzeige-Bürgerlicher in der Alternativpartei, musste auf das Mandat verzichten, weil er in seinem Lebenslauf die Mitgliedschaft in NSDAP und SA verschwiegen hatte. Die siegestrunkenen Grünen traf die Nachricht wie ein Schock. Längst hatte der 75jährige Vogel seine Antrittsrede als Alterspräsident konzipiert, wollte mit „Sachlichkeit und Ernst“ auf die anderen Parteien im Bundestag zugehen, dann musste er eingestehen: „Ich bin von meiner Vergangenheit eingeholt worden.“
Nach dem Eklat fiel es dem 69jährigen Willy Brandt zu, als Alterspräsident die Sitzung zu eröffnen. Nur vage ging der SPD-Vorsitzende in seiner Rede darauf ein, dass die Grünen mit 28 Abgeordneten ins Parlament eingezogen waren. Namentlich benannte er die neue Fraktion nicht, als er die Hoffnung aussprach: „Ich wünsche mir und uns allem, in diesem 10. Bundestag mit seinen fünf Parteien möge hinreichend deutlich und für unser Volk im ganzen erfahrbar werden, was die Lebendigkeit und die Lebenskraft unserer Demokratie ausmacht…“ Und wenige Sätze später: „Vielfalt, meine Damen und Herren, nicht Uniformität ist Stärke.“
Nicht nur äußerlich hatte die bunte Truppe, der mit 5.6 Prozent der Stimmen bei den Wahlen am 6. März der Einzug ins Parlament gelungen war, mit der Uniformität der parlamentarischen Anzugsträger und Kostümträgerinnen gründlich aufgeräumt. Dicke Pullover, Jeans, lange Bärte. Lediglich Otto Schily und der grüne Ex-General Gert Bastian machten in bürgerlichem Outfit eine Ausnahme. Alles andere als uniform waren auch die Lebenswelten, aus denen Teile der neuen Abgeordneten kamen: Ökosozialisten, Mitglieder von K-Gruppen, fast militante Atomgegner, NATO-Verweigerer. Wer die Breite des politischen Spektrums dieser neuen Partei vor Augen hatte, musste sich verwundert die Augen reiben, wenn sich viele Sozialdemokraten der Lebenslüge hingaben, diese „Antiparteienpartei“ sei „Fleisch aus ihrem Fleisch“.
Statt des 75jährigen Fast-Alterspräsidenten Vogel war es der 34jährige Bochumer Abgeordnete Eckhard Stratmann, der – in Pullover und Jeans – als erster Grüner im Bundestag das Wort ergriff und mit seinem Geschäftsordnungsantrag auf Aussprache über die Eröffnungsrede scheiterte. Weil, wie er von den parlamentarisch erfahrenen Platzhirschen belehrt wurde, sich der Bundestag erst einmal mit der Wahl des Parlamentspräsidiums konstituieren müsse.
Nicht nur in diesem Punkt wurde die erste Parlamentssitzung zu einer Lehrstunde des Scheiterns. Die Altparteien weigerten sich strikt, der neuen Fraktion einen Platz als Vizepräsident oder Vizepräsidentin des Bundestags einzuräumen. Das sollte erst mehr ein Jahrzehnt später gelingen, als die jüngst verstorbene Antje Vollmer 1994 als erste Grüne in das Amt als Vizepräsidentin gewählt wurde. Auch der Antrag der Abgeordneten Waltraud Schoppe, die Ausschusssitzungen für Bürger und Medien zu öffnen, blieb ohne Erfolg. Und dann mussten sie sich auch bei der Sitzordnung im Parlament unterordnen. Ihr Wunsch, den linken Rand im Plenarsaal für sich zu reklamieren, wurde vor allem von den Sozialdemokraten abgelehnt. Obwohl die Grünen in ihrer Parlaments-Ouvertüre erfahren mussten, dass sie die Regeln nicht im Hauruck ändern konnten, hatten die Platzhirsche doch Respekt vor der neuen Konstellation. Mahnend forderte deshalb der gerade gewählte Bundestagspräsident Rainer Barzel: „Wir erstreben keine gespreizte, verordnete Würde, sondern die natürliche Achtung, die aus unserer Arbeit und aus unserem Auftrag erwächst – und aus der Art, wie wir sie leisten. Keiner wird uns diese Achtung je entgegen bringen, wenn wir uns nicht, zunächst, untereinander Achtung erweisen.“
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