„Ein Geschrei war in Rama zu hören, / lautes Weinen und Klagen: / Rahel weinte um ihre Kinder / und wollte sich nicht trösten lassen, / denn sie waren dahin.“ (Matthäus 2,18)
Seit 1.500 Jahren begehen die Christen am 28. Dezember das »Fest der unschuldigen Kinder«. Es soll an den Tag erinnern, an dem laut dem Evangelisten Matthäus, König Herodes die (männlichen) Kinder von Betlehem töten ließ. Er fühlte sich bedroht, denn ihm war geweissagt worden, dass ein neuer König der Juden geboren sei. Bethlehem galt als die Stadt Davids, dem Gott lt. Altem Testament verheißen hatte, seine Nachkommen würden auf ewig den Königsthron inne haben. Somit eine echte Bedrohung für den König Herodes. Es galt also, sich schnell und wirksam zu verteidigen und die Gefahr für immer zu bannen. Also mussten alle potentiellen „Kandidaten“, nämlich die gerade geborenen Jungen im Babyalter „neutralisiert“ (so sagt man das ja heute) werden.
Die Zahl der Opfer war lange umstritten. Je nach benutzten Informationsquellen kamen ganz unterschiedliche Fallzahlen zu Stande. Ältere Quellen schätzten die Zahl der ermordeten Kinder auf 14.00-65.000. Im Mittelalter sprachen kirchliche Quellen von über 140.000 getöteten Kindern. Man brauchte offenbar höhere Opferzahlen, um den religiös und politisch opportunen Judenhass im alten Europa anzuheizen. In der Neuzeit korrigierten theologische Studien zum Kindesmord von Bethlehem die Zahl auf einige wenige Opfer, denn die Ortsgröße des biblischen Betlehems gab einfach nicht mehr neugeborene Jungen bzw. Jungen im Alter bis zu 2 Jahren her.
Heute wissen wir, die Geschichte ist frei erfunden. Aber im heutigen Israel und Palästina werden aktuell auch zur Weihnachtszeit Kinder ermordet. Die Motive sind zumindest teilweise anders, aber Angst und Hass spielen auch jetzt eine wichtige Rolle. Auch heute ist die Quellenlage trotz aller moderner Medien und machtvoller staatlicher Informationsdienste schwierig. Heute wie damals ist Propaganda ein wirkmächtiges Instrument. Was wir aber sicher wissen: Kinder und Frauen sind die Hauptleidtragenden. Unter den weit über 1000 Opfern der Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober waren mindestens 50 Kinder bis ca. 16 Jahren. 30, also sicher mehr als die theologischen Quellen für den biblischen Kindermord bilanzieren, wurden bestialisch ermordet. Mindestens 20 als Geiseln verschleppt und nach Tagen des furchtbaren Bangens und fürs Leben gezeichnet im Rahmen eines Geisel-/Gefangenentauschs freigelassen.
Die Reaktion Israels auf den 7, Oktober war und ist heftig. UN-Quellen zählen bis Weihnachten über 20.000 getötete Zivilisten im Gaza-Streifen. Die Dunkelziffer ist wegen der immensen Zerstörungen groß. Über 70% sind unschuldige Frauen und Kinder. Bedauerliche aber unvermeidliche „Kollateralschäden“ sagen die israelischen Streitkräfte und die Regierung Netanyahu, gezielte Morde sagen die palästinensischen Quellen und viele unabhängige Beobachter. Angesichts von bald 10.000 getöteten und weiteren ca. 25.000 verletzten Kindern ist der weltweite Aufschrei nicht verwunderlich. Aber die Welt ist gespalten. Über 150 Länder haben sich am 13.12. in der UN-Vollversammlung klar für einen sofortigen Waffenstillstand zum Schutz der zivilen Bevölkerung im Gazastreifen ausgesprochen, 10 waren dagegen, 23 enthielten sich „taktisch“. Es zeigt sich, die USA, Großbritannien und Deutschland stehen unerschütterlich und bedingungslos an der Seite Israels. Nur selten erfolgen zarte Aufforderungen, man möge die Zahl der zivilen Opfer so gering als möglich halten. „Bruch des Völkerrechts“ oder gar „Verletzungen der Menschenrechte“ kommen den Offiziellen nicht über die Lippen.
Gezielte Tötungen von Frauen, Kindern und Männern, die offensichtlich nicht zu Hamas gehören, sexuelle Gewalt gegen Kinder und Frauen, Folter und grausame Hinrichtungen wie z.B. das Vergraben von lebendigen Flüchtlingen durch Bulldozer werden aus verschiedenen Quellen berichtet. Das Internet ist voll davon. Noch einmal: Auch hier ist die Informationslage insgesamt kritisch, aber es gibt dennoch viele zweifelsfrei ernsthafte und glaubhafte Quellen dazu. Die Bundesregierung verweist darauf, dass das Einzelfälle seien und in jedem Fall die israelischen Behörden hinreichend Vertrauen verdienten, das dann selbst konsequent zu verfolgen und aufzuklären. Die Sicherheit Israels sei „Staatsräson“, betonen weiterhin Regierung und weitgehend auch die Opposition in Deutschland. Der unzweifelhaft terroristische und brutale Überraschungsangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober wird als Zivilisationsbruch gewertet. Der wiegt so schwer, dass er bislang noch keine Zweifel bei den Regierenden in Deutschland auslösen konnte, ob das aktuelle Vorgehen der israelischen Streitkräfte in Gaza sich noch in diesem Rahmen bewegt. Begleitet durch ein weitgehend betretenes Schweigen der meinungsbildenden Medien. Die Öffentlichkeit sieht das durchaus anders. Auch die Weihnachtsbotschaft des Papstes ist hier deutlicher: Es gibt keine Begründung für diesen Krieg, kein Recht darauf, Kinder und Frauen zu massakrieren, zu töten, einen ganzen Landstrich auf immer zu verwüsten, um die Terrororganisation Hamas – und es gibt wirklich keinen Zweifel daran, dass es eine solche ist – auf immer zu vernichten. Der weltweite Protest gegen dieses Gemetzel spricht Bände. Vergleiche mit Hiroshima, Auschwitz ohne Öfen, Dresden, Coventry und anderen Orten inhumaner Kriegshandlungen sind verbreitet und schüren Emotionen und Wut.
Es ist gefährlich, die langfristige Wirkung dieses Entsetzen zu unterschätzen. Kein zivilisierter Mensch spricht Israel das Existenzrecht ab. Aber es bleibt auch eine Tatsache, dass Israel von einer rechtsextremistischen Regierung in diesen Krieg geführt wurde. Die kennt nur schwarz-weiß und zielt offensichtlich nicht nur auf die Vernichtung der Hamas ab, sondern auch auf die Vernichtung jeglicher Lebensgrundlagen in Gaza und die Vertreibung der ca. 2,1 Millionen Zivilisten, die als Bedrohung der Sicherheit Israels gelten. Netanyahu, der Name bedeutet übrigens „von Gott gegeben“ will das so und noch folgt ihm offensichtlich eine Mehrheit der Wahlbevölkerung, aber der Widerstand wächst. Nebenbemerkung zu Benjamin Netanyahu: Der eigentliche Familienname „Mileikowsky“ wurde vom Großvater nach der Einwanderung in Palästina geändert, um möglicher Verfolgung zu entgehen, denn er war aktiver wie radikaler Zionist und verfasste radikale wie aufrührerische Texte.
Der Name Netanyahu „von Gott gegeben“ ist, wie die NZZ schreibt „eine Anmaßung, aber auch eine Ansage“. Benjamin Netanyahu hat dem von Jugend an Taten folgen lassen. In Tel Aviv geboren, in den USA aufgewachsen, hat sich als junger Mann freiwillig zum Israelischen Militär gemeldet und wurde später Mitglied einer Spezialtruppe, gegen die James Bond wie ein Streifenpolizist wirkt. Die Sajeret Matkal ist eine Spezialeinheit der israelischen Streitkräfte mit dem Einsatzschwerpunkt Terrorismusbekämpfung und Nachrichtendiensten. Neben eigenen traumatischen Erfahrungen hat Benjamin Netanyahu auch einen dramatischen persönlichen Verlust erlitten. Sein Bruder Jonathan Netanyahu kam 1976 in Entebbe ums Leben bei der erfolgreichen, israelischen Befreiungsaktion eines von deutschen und palästinensischen Terroristen entführten Flugzeugs mit mehr als hundert israelischen Passagieren. Benjamin Netanyahu hat nicht zuletzt deshalb den Kampf gegen den Terror zu seiner Lebensaufgabe gemacht oder wie die NZZ schrieb sich zu einem „zornigen Propheten“ entwickelt, eine wirklich biblische Geschichte! Das zeigt er unmissverständlich, wenn er am 8. Oktober versprach „der Feind werde dafür einen „beispiellosen Preis zahlen“ und eine Offensive ohne Beschränkungen in Aussicht stellte. Die dauert an und wird noch vielen unschuldigen Menschen das Leben kosten.
Der Westen kann eigentlich nicht mehr länger untätig zuschauen. Zur Staatsräson darf nicht das Töten von Kindern und Frauen gehören, unter keinen Umständen. Der Vernichtungskrieg gegen die Zivilisten in Gaza hat eine Unmenschlichkeit erreicht, die in der jüngeren Geschichte nahezu beispiellos ist. Die Sicherheit Israels wird nach dem Ende dieses Krieges unsicherer sein als je zuvor, Und der „zornige Prophet“ Netanyahu hat den Ruf Israels schlimmer und langfristiger beschädigt, als es Herodes vor über 2000 Jahre vermochte; Unabhängig davon, dass die ganze Geschichte des Bethlehemer Kindermordes als erfunden gilt. Das Sterben von Frauen und Kindern in Gaza ist keine Erfindung. Es ist real und schreitet jeden weiteren Tag furchtbar voran. Ein ranghoher Priester hat es in Bethlehem auf den Punkt gebracht: Solidarität gilt allen, die von Krieg betroffen sind. Das gilt für die Kinder Israels genau wie für die Kinder Palästinas. Daran sollten wir am 28. Dezember denken.