„Die Erinnerung darf nicht enden“, beginnt jene kurze Rede am 3. Januar 1996, mit der der damalige Bundespräsident Roman Herzog den Gedenktag zur Erinnerung an den Holocaust, an die Verbrechen der Nazis an der Menschheit begründete und ihn auf den 27. Januar festlegte. „Sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen. Es ist deshalb wichtig, nun eine Form des Erinnerns zu finden, die in die Zukunft wirkt. Sie soll Trauer über Leid und Verlust ausdrücken, dem Gedanken an die Opfer gewidmet sein und jeder Gefahr der Wiederholung entgegenwirken.“ Der 27. Januar ist durch eine Erklärung der UNO seit 2005 auch der Internationale Tag des Gedenkens der Opfer des Holocaust. Er steht vor allem auch für die Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die Soldaten der Roten Armee. Und Auschwitz steht für den Völkermord der Nazis an den Juden in ganz Europa, dem sechs Millionen Menschen- Männer, Frauen, Greise, Kinder- zum Opfer fielen.
Heuss sprach von der Scham des ganzen Volkes
Allein im polnischen Auschwitz unweit von Krakau wurden über eine Millionen Menschen, zumeist Juden, umgebracht: vergast, erschlagen, erschossen. Die Erinnerung an diesen Genozid ist Teil der Identität der Bundesrepublik, sie wird rein äußerlich sichtbar durch die Trauerbeflaggung aller öffentlichen Gebäude am 27. Januar und inhaltlich durch eine Gedenkstunde im Bundestag. Schon der erste Bundespräsident der Bundesrepublik, Prof. Theodor Heuss, gedachte dieses Völkermords. Er sprach von der Scham des ganzen deutschen Volkes ob dieser Verbrechen. Eine andere Idee, ein anderes Vermächtnis kommt heute hinzu, wie es Zeitzeugen in ihren neuen Büchern über jene Zeit der Hölle jüngst beschrieben haben und wie der Titel eines solchen Buches von Shlomo Graber lautet: Der Junge, der nicht hassen wollte. Kein Einzelfall, wie andere Zeitzeugen mit ihren Schilderungen belegen. So Eva Mozes Kor: „Die Macht des Vergebens“. Eine andere zentrale Botschaft hat der im letzten Jahr verstorbene Max Mannheimer in die Worte an die jüngere Generation gefasst: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“
Erinnerung an den Völkermord
Als hätte Herzog damals geahnt, was heute im Umlauf ist, so klingen die Sätze des kürzlich verstorbene ehemaligen Bundespräsidenten. Seine Worte könnten heute ähnlich fallen, wo nationale bis nationalistische Kräfte die Erinnerung an den Holocaust der Nazis, an diesen einmaligen Zivilisationsbruch am liebsten tilgen würden und das Gedenken an die Millionen Opfer mit ihrem Spott beleidigen und das Holocaust-Mahnmal mitten im Berliner Regierungsviertel als „Denkmal der Schande“ bezeichnen. Björn Höcke, AfD-Politiker aus Thüringen, früher mal Geschichtslehrer, ist der Autor dieser verbalen Entgleisung. Er tat, was ja AfD-Leute gern tun, in dem sie provozieren und es anschließend nicht so gesagt haben wollen. Wörtlich Höcke: „Wir Deutschen sind das einzige Volk, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“ Und er hat das ja noch verdeutlicht, indem er von einer „dämlichen Bewältigungspolitik“ sprach und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad forderte. Das Ganze geschah unter dem lauten Beifall seiner Anhänger. Zufall? Wohl kaum. Und dass der AfD-Vorstand es bei einer Rüge für Höcke belässt und ihn nicht aus der Partei wirft, kann angesichts der Taktik dieser Populisten kein Zufall sein, sondern eher Berechnung. Man braucht schließlich Höcke für die Wähler am ganz rechten Rand, muss aber andererseits auch öffentlich betonen, dass man seine Äußerungen so nicht teilt. Man braucht ja auch die bürgerlichen Wähler aus dem Lager der CDU und der SPD, die mit ihren alten Volksparteien nicht mehr einverstanden sind.
Der Tag des Gedenkens, der in besonderer Weise an den schlimmsten Ort des Verbrechens der Nazis an der Menschheit, an das KZ Auschwitz erinnert, diese Industriemaschine des Todes, soll aber allen Opfern dieser braunen Regime-Jahre gerecht werden: den Juden, Christen, Sinti und Roma, Menschen mit Behinderung, Homosexuellen, den politisch Andersdenkenden, den Männern und Frauen des Widerstandes, den Wissenschaftlern, Künstlern, Journalisten, Kriegsgefangenen, Deserteuren, Greisen, den Kindern an der Front, all den Millionen Menschen, die von den Nazis entrechtet, verfolgt, gequält und ermordet wurden.
Blockade von Leningrad: 1,1 Mio Tote
Jedem normalen deutschen Demokraten stockt bei der Aufzählung all dieser Opfer-Gruppen der Atem, man könnte noch ins Detail gehen und u.a. den Vernichtungskrieg im Osten erwähnen, oder die jahrelange Blockade von Leningrad, bei der die Nazis, auch mit Hilfe der Wehrmacht, 1,1 Millionen Menschen systematisch aushungern ließen. Es gibt noch viele schlimme Beispiele. Das mit der Schande fällt auf den Redner der AfD, Björn Höcke zurück, dessen gedanklicher und verbaler Ausfall dann noch von AfD-Vize Alexander Gauland mit fast grinsender Miene verteidigt wurde. Die Wählerinnen und Wähler dieser Partei müssen sich fragen lassen, inwieweit sie diesen verhängnisvollen, peinlichen Kurs mitgehen wollen.
Es gibt heute nur noch wenige Überlebende von Auschwitz. Einer davon ist Marko Feingold, inzwischen 103 Jahre alt. Der Österreicher, ein Jude, hat Auschwitz, Buchenwald, Neuengamme und Dachau überlebt. Seit Jahren setzt er sich gegen Antisemitismus und Faschismus ein und versucht, Schülern diese schlimme Zeit durch seine Erinnerungen nahezubringen. Auschwitz, das war die Hölle. Er beschreibt sie in seiner „Überlebensgeschichte: Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh.“
SS schlug, wann und wohin es ging
„Die SS in Auschwitz schlug, wann und wohin es nur ging. Wenn einen die SS nicht erwischte, schlugen einen die anderen Häftlinge…So mancher Häftling wurde von der SS in den Kot(der Latrine) hinuntergestoßen und ist unten erstickt… Wenn wir frühmorgens zur Arbeit ausrückten, blieben oft Häftlinge im Hof zurück. Sie waren wohl schon verrückt und kletterten an der Wand herum, an der während unserer Abwesenheit immer Häftlinge erschossen wurden.“ Es wurde geschlagen, getreten, geschossen, es gab kaum etwas zu essen, man schlief auf Strohsäcken, manchmal auch nackt, weil man ihnen die Klamotten abgenommen hatte. Die SS und ihre Schergen nahmen den Häftlingen alles ab, was sie am Leibe trugen. Und wenn der Ring nicht glatt vom Finger ging, wurde er losgesägt, wobei natürlich der Finger verletzt wurde. Aber Menschlichkeit gab es in Auschwitz ja nicht. Willkür, Rechtlosigkeit, Erniedrigungen, Verletzungen, Schläge. Viele wurden ins Gas geschickt, wie das in der Sprache der Häftlinge hieß. Der Tod war der tägliche Begleiter in Auschwitz. Feingold schaute einmal in den Spiegel und erkannte sein Gesicht nicht mehr. „Das kann nicht ich sein“, schildert er sein eigenes Aussehen. „Zwei Knochen, Nase und Kinn, das war das Gesicht.“ Irgendwann wog er nur noch 30 Kilo.
Häftlinge starben stehen bei der Arbeit
Viele Häftlinge seien stehend gestorben, bei der Arbeit, so Feingold, der auch so dastand, auf die Schaufel gestützt, halbtot. Als Einziger aus seiner Familie überlebte er. Nach dem Krieg erlebte er viele Österreicher, die sich vor der Geschichte und ihrer eigenen Verantwortung davonstahlen, sich selbst als Widerstandskämpfer sahen, dabei seien sie richtige Nazis gewesen. Geschichten, wie es sie auch im Deutschland nach dem Krieg gab. Feingold wurde Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Salzburg. Als solcher stand er dann für die öffentliche Auseinandersetzung zum Thema Juden in Österreich und in Deutschland. Und als solcher-und schon könnte man das wieder in die Jetztzeit verpflanzen- erhielt er ständig Schmäh- und Drohbriefe. Aber Feingold hatte die Konzentrationslager überlebt, da schreckten ihn diese Beschimpfungen nicht. Er empfindet sie noch heute fast als Normalität des Lebens eines österreichischen Juden. So kann man es im Nachwort des Buches nachlesen.
Zeitzeugen Feingold und Mozes Kor
Marko Feingold ist Zeitzeuge, wie auch die heute 82jährige Eva Mozes Kor, die als Kind Auschwitz überlebt hat. Und heute ihren einstigen Tätern vergibt. Dabei haben die Wachmänner die Familie brutal getrennt, die Zwillinge aus den Händen der Mutter gerissen, da waren der Vater und die älteren Schwestern schon verschwunden. Es ist das letzte Mal, dass Eva Mozes Kor ihre Mutter sieht. Aus ihrer Familie werden nur sie und ihre Zwillingsschwester Miriam überleben. Die Ankunft in Auschwitz, die Rampe, die Selektion. Im Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Oskar Gröning gehört sie wie andere 64 Personen zu den Nebenklägern. Gröning hatte in Auschwitz nicht selber getötet, er war nur ein Rädchen in der Maschinerie, teils war er an der Rampe gestanden als Wachmann, oder er sortierte das Geld, das den Juden und anderen Häftlingen abgenommen worden war. Der „Spiegel“ nannte Gröning den „Buchhalter“, der nach dem Krieg ein bürgerliches Leben lebte mit Dackel und Briefmarkensammlung. Er galt juristisch als unschuldig, erst durch die Rechtsprechung im Fall Demjanjuk änderte sich das, weil auch die so genannten kleinen Wachmänner und die anderen Helfer mit in die Verantwortung genommen wurden, denn ohne sie wären die Todesfabriken nicht am Laufen gehalten worden.
Ein Opfer gibt dem Täter die Hand
Das Landgericht Lüneburg verurteilte Gröning wegen Beihilfe zum Mord in 300000 Fällen zu vier Jahren Haft, der BGH hat das Urteil bestätigt. Eva Mozes reichte Gröning am Rande des Prozesses die Hand als Zeichen der Vergebung. Er umarmte sie und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. Eva Mozes Kor spricht den Täter nicht von seiner Verantwortung frei, findet es aber nicht richtig, dass der 93jährige ins Gefängnis müsse. Besser wäre es, wenn dieser dazu verurteilt würde, seine Geschichte immer wieder vor jungen Menschen zu erzählen.
Oder nehmen wir den Fall des damals berühmten Bonner Prof. Felix Hausdorff, der sich vor 75 Jahren zusammen mit seiner Frau und Schwägerin das Leben nahm. Eine Straße im Bonner Stadtteil Kessenich trägt seinen Namen mit dem Zusatz: Von den Nazis in den Tod getrieben. Um der Deportation zu entgehen, schied er am 26. Januar 1942 aus dem Leben. Der international anerkannte Wissenschaftler wurde von den Nazis ins Abseits gestellt, indem sie seine Forschungen als jüdisch, nutzlos und undeutsch hinstellten und ihn 1935 von der Uni warfen. 1980 stifteten Professoren und Studenten eine Gedenktafel für das mathematische Institut mit der Inschrift: „An diesem Institut lehrte 1921 bis 1935 der Mathematiker Felix Hausdorff, 8.11. 1868 bis 26.1. 1942. Er wurde von den Nationalsozialisten in den Tod getrieben, weil er Jude war. Mit ihm ehren wir alle Opfer der Tyrannei. Nie wieder Gewaltherrschaft und Krieg!“ Der Bonner Generalanzeiger hat kürzlich eine Geschichte über diesen Wissenschaftler geschrieben mit dem Titel: „Von den Nazis in den Tod getrieben.“
Bundesrepublik und Europa sind Errungenschaften
75 Jahre nach der Wannsee-Konferenz, auf der die Nazi-Führer, Reinhard Heydrich, Adolf Eichmann, Freisler und die anderen die weitere Deportation der Juden in ganz Europa zwecks ihrer Massenvernichtung organisatorisch protokollierten- von 11 Millionen Juden war die Rede-, 72 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, 84 Jahre nach der Übernahme der Macht durch Hitler und Co, es ist alles sehr lange her. Prof. Norbert Frey, der an der Schiller-Universität in Jena lehrt, hat Anfang Januar in einem Gastbeitrag über die wachsende Bedeutung der Zeitzeugen einen Bericht für die „Süddeutsche Zeitung“ geschrieben, der aktueller nicht sein kann. „Weil die letzten Zeitgenossen der NS-Zeit sterben, sollten wir uns auf die Überlieferung besinnen“, fordert der Historiker. Und er hat ja Recht, es ist alles da und greifbar, in Dokumentationssammlungen, in Büchern, als Videoaufzeichnungen und im Netz. Der Beitrag endet mit einem mahnenden Wort des großen Fritz Stern, der in Breslau geboren wurde, der die Geschichte Deutschland wie kaum ein anderer kennt und der im Mai letzten Jahres in New York gestorben ist. Stern äußert sich sehr besorgt über die Zukunft: „So wenig sich die Deutschen genügend darüber im Klaren sind, was für eine Errungenschaft die Bundesrepublik gegenüber früheren Jahrhunderten deutscher Geschichte bedeutet, so wenig ist sich die jetzige Generation der Europäer genügend bewusst, welche Leistung es war, Europa so weit zu bringen, wie es heute ist.“
Man fühlt sich erinnert an die letzte Rede des scheidenden Bundespräsidenten Joachim Gauck, als er die Bundesrepublik gewürdigt hat als das Beste, was es je in Deutschland gab. Auch Gauck mahnte, weil er Gefahren sieht für diese Demokratie, die es wehrhaft zu verteidigen gilt. Gegen all die Nationalisten, gegen Rassisten, die Ewiggestrigen. Nicht vergessen. Nie wieder. Immer menschlich bleiben, jedem gegenüber. An Botschaften fehlt es nicht.
Quellen: Marko Feingold: Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh. Picus-Verlag, Wien, 2000. 329 Seiten. Shlomo Graber: Der Junge, der nicht mehr hassen wollte. Riverfield-Verlag, Basel 2016, 224 Seiten, 19.90 Euro. Süddeutsche Zeitung. Der Freitag. Bonner Generalanzeiger.
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