In den USA werden noch Stimmen gezählt; es ist noch nichts endgültig entschieden. Eine deutliche Abkehr von der Spalterpolitik der roten Republikaner und ihres Präsidenten wird es jedoch nicht geben. Was heisst das?
Der bedeutende zeitgenössische deutsche Historiker Heinrich August Winkler hat eine mehrbändige Geschichte Deutschlands als „langer Weg nach Westen“ erzählt. Darin ist der „Westen“ eine Gruppe von Staaten, die hinsichtlich stabiler Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, individueller Freiheit zivilisatorischem Standard vorbildlich ist. Diesem hohen Niveau von Zivilisation habe sich – man tritt dem Autor mit dieser Ultrakurzfassung sicher nicht zu nahe – Deutschland von unten kommend und recht langsam angenähert.
Nach dem Zusammenbruch des sowjetisch geführten Ostblocks war dieser Westen nach Meinung der Einen „übrig geblieben“, andere sahen ihn als den „Sieger der Geschichte“.
Von einer Friedensdividende wurde geträumt, vom „Ende der Geschichte“, vom globalen Siegeszug der Demokratie und als Gefahr sahen einige allenfalls den „Clash of civilisations“. Damit war der Zusammenstoß und Konflikt zwischen „Westen“ und fundamentalem Islam gemeint.
Nach der Wahl in den USA am 3. November 2020 wird hingegen die Analyse wahrscheinlicher, dass der Westen sich selber abschafft. Denn die bisherige Führungsmacht – und das idealisierte Vorbild einer ganzen Generation westdeutscher Nachkriegspolitiker – schert sich nunmehr einen Dreck um hohe Zivilisationsstandards.
Ein Präsident ruft sich zum Wahlsieger aus, was zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal beim Stand der Stimmenauszählung zutrifft, weiter kündigt er an, die Auszählung anzufechten.
Das geht selbst einigen seiner hartgesottenen Gefolgsleute zu weit, die die Wichtigkeit, das gleiche Gewicht jeder einzelnen abgegeben Stimme verteidigen.
Einige Beobachter mögen das Zeichen weiter funktionierender demokratischer Regeln und Institutionen in den USA deuten – und das mit gewisser Erleichterung.
Das aber ist schwer begreiflich; es ist wie die Verteidigung einiger demokratischer Wesensmerkmale kurz vor dem Abgrund. Bis eben haben sich die rechten Demokraten im mehrjähriger wahnhafter Begeisterung über einen Präsidenten ohne jeden Anstand und Respekt oder im vierjährigen Koma, das sie die Aushöhlung der Institutionen nicht bemerken ließ, treiben lassen. Der Abgrund ist vielleicht eine verzweifelte, aber sicher keine erfolgversprechende Verteidigungsstellung.
Wie Demokratien sterben haben Steven Levitzky und Daniel Zieblatt analysiert, das Buch ist 2018 auf deutsch erschienen und hier im Bloc-der-Republik rezensiert worden. Jahrelang haben sich die nordamerikanischen Politikwissenschaftler mit dem Aufstieg autoritärer Herrschaft aus eigentlich demokratischen Verhältnissen beschäftigt. Sie haben Beispiele aus allen Kontinenten studiert, angefangen mit dem deutschen Nationalsozialismus.
Einer ihrer geradezu erschrockenen Sätze lautet, dass sie nie gedacht hätten, sich mit der Frage, wie Demokratien sterben, ihrem eigenen Land widmen müssten. In dem Buch widmen sie sich jedoch hauptsächlich den USA, weil sie zeigen wollen, wie weit dort der Niedergang der Demokratie schon vorangeschritten ist. Ebenso zu Recht wie vergeblich kann man nach dem 3. November 2020 sagen. Selbst wenn Joe Biden noch gewinnen sollte, ändert das kaum diesen Befund.
In ersten Reaktionen in Europa wird eine neue europäische Außenpolitik verlangt, das kann viel bedeuten. Einige werden an mehr Aufrüstung denken, andere an neue Außenhandelswege, an gute Geschäfte mit Russland und China, an mehr Unabhängigkeit von den USA (diese Vorstellung hat allerdings erst einmal die Börsen krachen lassen). Auch ist natürlich zu überlegen, was es heißt, sich als letzte Bastion eines politischen Westens zu verstehen, der ja auch innerhalb der Europäischen Union von zu vielen Regierungen aktiv zu Grabe getragen wird.
Für diesbezügliche Hochnäsigkeit besteht also gar kein Anlass! Eher für Dankbarkeit, dass wir in Deutschland gute 70, in Ostdeutschland immerhin 30 Jahre an der Freiheit partizipieren durften.
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