I.
Im August 1925 wurde in Neuss das Rheinische Städtebundtheater gegründet. Mitglieder im Trägerverein waren anfangs neben der Sitzstadt Neuss Orte am Niederrhein wie Emmerich, Kleve, Wesel oder Goch. Weitere kamen später hinzu, auch aus Westfalen, wie Gladbeck, Buer, Wanne-Eickel oder Recklinghauen. Spielstätte in Neuss war das historische Zeughaus, 1637 als Kloster errichtet und nach der Säkularisation seit 1802 im Besitz der Stadt. Derartige Theater erfüllen bis heute eine Doppelfunktion – zum einen bespielen sie in ihrer Stadt das eigene Haus, zum anderen gastieren sie in Städten und Gemeinden, die nicht über ein eigenes Ensemble verfügen.
Schon bald gastierte das Theater, wie es im Verwaltungsbericht der Stadt Neuss für die Jahre 1924-1928 heißt, „in insgesamt 40 Städten, mit denen vertragliche Abmachungen über die Abnahme der Vorstellungen und deren Finanzierung“ bestanden. 1937 erfolgte die Umbenennung in „Rheinisches Landestheater“. Diesen Namen hat es bekanntlich noch heute. Zum 30-jährigen Jubiläum spendierte die Stadt Neuss 1955 ein eigenes Gebäude an der Drususallee, und im Jahr 2000 wurde, passend zum 75. Geburtstag, das ehemalige Hortenhaus zur neuen und bis heute genutzten Spielstätte. Da kann man mal sehen, was man aus ehemaligen Kaufhausgebäuden so alles machen kann!
In den ersten drei Spielzeiten von Oktober 1925 bis April 1928 standen pro Saison jeweils rund 20 unterschiedliche Stücke der bekanntesten nationalen und internationalen Dichter auf dem Spielplan, von Goethe (Faust I) und Schiller (Maria Stuart) bis Müller-Schlösser (Schneider Wibbel) und Edgar Wallace (Der Hexer). Ja, der „Hexer“ war eigentlich ein Theaterstück, das 1927 seine deutsche Premiere am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie des berühmten Max Reinhard feierte. In der Stadt Neuss gab es in der dritten Spielzeit 1927/28, in der auch Wallace auf die Bühne gebracht wurde, insgesamt 37 Aufführungen der zusammen 23 Stücke. Im gesamten Städtebund-Gebiet waren es sage und schreibe 272 Aufführungen – wohlgemerkt in einer Saison! In der folgenden, der vierten Saison war übrigens auch Dora Diamant, Franz Kafkas letzte Liebe, Ensemble-Mitglied des Rheinischen Städtebundtheaters.
Und ein Dramatiker war offensichtlich schon damals eine feste Größe in Neuss, nämlich William Shakespeare, mit vier Inszenierungen in den ersten drei Spielzeiten. Das waren „Der widerspenstigen Zähmung“, „Romeo und Julia“, „Othello“ und die „Komödie der Irrungen“ Das jährlich stattfindende Shakespeare-Festival hat also eine durchaus beachtliche Tradition in Neuss. Wie der städtische Chronist Ende der 1920er Jahre festhielt, hatte der Besuch in der ersten Spielzeit noch „zu wünschen übrig gelassen“, war in der zweiten Saison „besser geworden“, und war in der dritten „dank der wiederum wesentlich gehobenen künstlerischen Leistungsfähigkeit des Theaters besser als früher, ließ aber trotzdem noch sehr zu wünschen übrig.” Immerhin umfasste der Saal des Zeughauses 600 Plätze, und die mussten erst einmal gefüllt werden.
II.
Aber zurück zum Jahr 1925 und zu Carl Zuckmayer und dem Wein: Kurze Zeit nach der Gründung des Rheinischen Städtebundtheaters wurde im Dezember 1925 – nicht in Neuss, sondern im Theater am Schiffbauer Damm in Berlin – das Lustspiel „Der fröhliche Weinberg“ von Carl Zuckmayer (1896-1977) uraufgeführt. Dieses Stück wurde in den Jahren danach zum meistgespielten Theaterstück Deutschlands. Es rief zu seiner Zeit häufige Beifallsstürme hervor und brachte die Zuschauer zum Lachen, führte aber auch zu Protesten. Zuckmayer machte sich nämlich in seiner rheinhessischen Heimat zuerst kaum Freunde, etwa bei den Einwohnern seines Geburtsortes Nackenheim am Rhein, die sich als Provinzbürger karikiert sahen, oder bei Corps-Studenten, die er auf die Schippe nahm.
Auch von kirchlicher Seite gab es heftige Kritik an der unzüchtigen Freizügigkeit des Themas des Stückes. In dem ging es nämlich um den Wunsch eines Winzers, dass seine Tochter ihm endlich einen Enkel als Erben schenken sollte. Sie dürfe sich aber erst verloben bzw. heiraten, wenn sie schwanger sei! Diese Reihenfolge war natürlich nicht im Sinne der Kirche! Dass derartiges in Neuss nicht auf den Spielplan kam, lag vielleicht auch am Bühnenvolksbund, einer „Vereinigung zur Theaterpflege in christlich deutschem Volksgeist“, die an der Gründung des Rheinischen Städtebundtheaters beteiligt gewesen war.
Wie Zuckmayer 1961 über sein erstes Erfolgsstück rückblickend bilanzierte, hat es damals „63 Theaterskandale in 63 deutschen Städten“ gegeben. Zur damaligen Zeit wurden solche Skandale in Kinos oder Theatern übrigens gerne von Stinkbomben und freigelassenen weißen Mäusen begleitet. Heute würde es wohl mit einem Shitstorm im Netz beginnen. Seine größten Erfolge in den Jahren der Weimarer Republik hatte Zuckmayer 1927 mit seinem Schauspiel über das Leben des Räuberhauptmanns „Schinderhannes“ und 1931 mit der Komödie „Der Hauptmann von Köpenick“. Wer kennt letzteres zumindest dem Namen nach nicht?
„Der Hauptmann von Köpenick“ brachte seinem Autor Carl Zuckmayer endgültig den Hass der Nationalsozialisten ein, denen die antimilitaristische Tendenz des Stücks nicht passte. Nach der Machtergreifung der Nazis wurden seine Werke 1933 denn auch verboten, seine Bücher verbrannt. Er ging ins Exil und setzte nach dem Zweiten Weltkrieg mit seinem Stück „Des Teufels General“, uraufgeführt im Jahr 1946, seine dichterische Karriere fort. Die genannten Stücke sind alle übrigens, zum Teil mehrfach verfilmt worden, die meisten von uns werden sich daran erinnern. Ich nenne nur: Curd Jürgens als Harras in „Des Teufels General“ und Heinz Rühmann als „Hauptmann von Köpenick“.
Aber zurück zu Neuss und zum Wein: Nach der gelungenen Premiere 1925 bewarben sich über 100 Bühnen um die Aufführungsrechte für Zuckmayers „fröhlichen Weinberg“. Auf dem Spielplan des Rheinischen Städtebundtheaters in Neuss tauchte es allerdings nicht auf, wie erwähnt und im Verwaltungsbericht der Stadt aus dem Jahr 1928 belegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es Zuckmayer aber doch noch nach Neuss geschafft: zwar nicht mit dem „fröhlichen Weinberg“, aber im Jahr 1951 mit dem „Schinderhannes“ und 1954 dem „Hauptmann von Köpenick“.
III.
Das Thema Wein war Zuckmayer schon in die Wiege gelegt. Er kam nämlich als Sohn eines Fabrikanten für Weinflaschen-Kapseln zur Welt. Aber Zuckmayer hatte auch enge Verbindungen zur „Deutschen Weinzeitung“ in Mainz, in Zuckmayers eigenen Worten „dem ersten und wohl auch heute noch bedeutendsten Fachblatt für Weinkunde und Weinbau, das von meinem Großvater gegründet, von meinem Onkel weitergeführt wurde und heute von meinem Vetter geleitet wird.“ Dieses Zitat stammt aus einem Brief von Zuckmayer aus dem Juli 1965 an den Verlagsleiter des Ullstein Verlags in Berlin, mit dem er freundschaftlich verbunden war. Dieser Verlagsleiter hieß Cyrill Soschka. Dessen Nachlass hat mich dazu gebracht, mich näher mit Carl Zuckmayer und auch mit Erich Maria Remarque, dem Autor von „Im Westen nichts Neues“ zu befassen. Beide Schriftsteller waren nämlich mit Cyrill Soschka bekannt bzw. befreundet.
Cyrill Soschka schlug Zuckmayer im Jahr 1965 nach der Lektüre eines Aufsatzes über eine von ihm, Zuckmayer unternommene Weinreise durch Europa brieflich vor, dass daraus „ein recht hübscher Geschenkband … illustriert mit Karten-Skizzen“ und Zeichnungen gemacht werden könnte. Zuckmayer war angetan von der Idee und konnte sich vorstellen, aus seiner „Wein-Odyssee“, wie er es nannte, so etwas zu machen wie ein „Kompendium: wo was zu trinken.“ Dazu muss man wissen, dass Schriftsteller wie Zuckmayer oder Remarque, die den Ersten Weltkrieg an der Front selbst erlebt und erlitten hatten, ihre traumatischen Erfahrungen sehr oft im Alkohol ertränkten. In Zuckmayers Erinnerungen “Als wär’s ein Stück von mir“ aus dem Jahr 1966 findet sich der Satz „Man hatte über etwas zu schweigen, das man besser wegsoff.“
Das galt für die Zeit nach dem Ersten und zweifelsohne auch für viele Kriegsteilnehmer des Zweiten Weltkriegs. Aber das ist eine eigene Geschichte. Soweit feststellbar, ist aus der Idee eines derartigen Wein-Kompendiums leider nichts geworden. Schade, denn dann hätten wir mit Hilfe eines Weinführers aus der Feder eines der erfolgreichsten deutschen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts etwas über den einen oder anderen Wein lernen können. Wir kennen Zuckmayers Geschmack nicht, aber vielleicht ist jetzt die Neugier des Lesers geweckt, das eine oder andere Werk der genannten Autoren nachzulesen – bei einem guten Glas Wein! Vielleicht gehen Sie aber auch mal wieder ins Theater! Da empfehle ich das Rheinische Landestheater!