„Karneval fällt aus; er wird bei Strafe verboten.“ So beginnt ein Rückblick im „Bonner Generalanzeiger“ über das Krisenjahr 1923. Der Autor räumt ein, es handele sich nicht um die „schmerzvollste Nachricht dieser Tage, einschneidend ist sie gleichwohl“. Karneval, das ist im Rheinland ein Ereignis, das aber nur richtig versteht und einordnen kann, wer hier geboren ist, nur dann versteht er, was sich auf Straßen und in Kneipen abspielt. Auch damals. Der Grund ist aber nicht ein Virus und die damit verbundene Pandemie, sondern es sind die Siegermächte des Ersten Weltkriegs, genauer ist es vor allem Frankreichs Ministerpräsident Raymond Poincaré, kein Freund der Deutschen. Poincaré lässt die schon 1920 begonnene Besetzung des Rheinlands auf das Ruhrgebiet ausdehnen.
Über 100000 Soldaten sollen die im Versailler Vertrag festgeschriebenen Reparationszahlungen eintreiben, notfalls durch Kohle aus den Zechen an der Ruhr. Die Sorgen von Millionen Menschen nehmen zu, es kommt zu Protesten, zu passivem Widerstand, weil die Rechtsregierung das so will, Schüsse fallen, es gibt Tote und Verletzte, die junge Republik wankt, wegen der Inflation droht dem Reich eine Finanzkatastrophe. Ein gewisser Adolf Hitler tritt auf mit seinen Nationalsozialisten. Sein Putsch bricht zusammen, er landet im Gefängnis. Politisch kann sich die Republik retten-ein Bürgerkrieg scheint abgewendet, Weimar überlebt- vorerst.
Hakenkreuzler
Der Historiker Mark Jones beschreibt im Vorwort seines lesenswerten Buches „1923- Ein deutsches Trauma“ die aufgeheizte Stimmung im Land und den längst vorhandenen Antisemitismus. „Mitte November 1923 ging ein 16jähriges Mädchen, das sich ein schwarz-rot-goldenes Bändchen an die Brust gesteckt hatte, in Bayern spazieren. Ein junger Mann kam ihr entgegen, trat auf sie zu und wies sie an, das Bändchen zu entfernen. Als sie sich weigerte, begann er sie zu schlagen, wobei er versuchte, ihr das Bändchen mit den Farben der Weimarer Republik zu entreißen. Der junge Mann war ein „Hakenkreuzler“- ein Begriff, den deutsche Demokraten damals abfällig für Hitlers Anhänger benutzten. Schließlich ließ er von dem Mädchen ab und rannte fort. Kein einziger Passant war ihr zu Hilfe gekommen. Das Bändchen war beschädigt, aber nicht zerstört worden.“ Noch nicht, wie sich später zeigen sollte. Der Republik fehlten die Demokraten, die sich für sie einsetzten, wie das kleine Beispiel hier belegt.
Zurück zum Ruhrgebiet und der Besetzung. Das Revier ist damals noch und für Jahrzehnte das Industriezentrum Deutschlands. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg muss die gerade ausgerufene Republik hohe Abgaben an die Siegermächte leisten, zu hohe, die sie überfordert. Deshalb marschieren Franzosen und Belgier ins Ruhrgebiet ein, bewaffnet. Die Besatzer führen sich zum großen Teil auf wie schlimmste Herrenmenschen, Frauen werden vergewaltigt, verschleppt, Männer verprügelt. Es wird Rache geübt für das, was deutsche Soldaten zuvor im Krieg Französinnen angetan hatten. Die Deutschen haben Sorge, die Franzosen würden Teile des Rheinlands und des Ruhrgebiets einnehmen, abtrennen vom übrigen Deutschland. Die Spannungen zwischen Einheimischen und Soldaten nehmen täglich zu. Es kommt zu passivem Widerstand, die Arbeiter im Revier verweigern die Arbeit, sie streiken. Franzosen besetzen zum Beispiel die Krupp-Werke in Essen und die Villa Hügel. Sie wollen mit militärischer Gewalt Fahrzeuge beschlagnahmen, mitnehmen. Die Kruppianer stellen sich ihnen mit bloßen Händen in den Weg. Es kommt zu Schießereien, es gibt Tote.
Da im Ruhrgebiet nichts mehr produziert wird, gibt es auch keine Einnahmen mehr. Und wenn doch gearbeitet wird, bleibt am Ende der Woche der Lohn aus. Oder das Geld, das die Arbeiter bekommen, ist nichts mehr wert. Es war einfach nur noch Papiergeld, im Auftrag der Regierung gedruckt. Mit schweren Folgen für die Bevölkerung. Viele Ersparnisse werden wertlos. Durch die Hyperinflation verlieren Menschen quasi über Nacht ihr ganzes Vermögen, Haus und Hof, das sie verkauft haben, aber die Millionen, die sie dafür bekommen haben, sind am nächsten Morgen nichts mehr wert. Beispiel, zitiert nach dem „Bonner Generalanzeiger“: der Fahrpreis der Straßenbahn „für bis zu zwei Teilstrecken“ steigt Anfang Februar 1923 auf 150 Mark. Eine Woche später kostet die Fahrt schon 200 Mark, Ende des Monats 350 Mark.“
Ein Brot für Milliarden
Die Reichsbank druckt immer größere Scheine und Mengen. Der Kurs der Mark fällt ins Bodenlose. Für einen Dollar muss man 8800 Mark hinlegen, das ist nur der Anfang. Ein Laib Brot kostet 250 Mark. Im November 1918, kurz nach Kriegsende, hatten die Deutschen nur 53 Pfennige für ein Brot bezahlen müssen. Am 1. November 1923 kostet ein Laib Brot schwindelerregende 260 Milliarden Mark, Geld, das man nur in Säcken oder auf Schubkarren transportieren kann.
Tausende und Abertausende werden arbeitslos, hungern und frieren im tiefsten Winter. Zudem weisen die Franzosen rund 140000 Menschen aus dem besetzten Ruhrgebiet aus, Beamte ebenso wie Bahnarbeiter, Arbeiter, die die Reichsregierung zum passiven Widerstand aufgerufen hatte. Der Industrielle Fritz Thyssen weigert sich, Reparationskohle an Frankreich zu liefern, er wird verhaftet und zu einer Geldstrafe verurteilt.
Die politische Stimmung verändert sich dramatisch, weil viele Deutsche die Bestimmungen des Versailler Vertrages, unterzeichnet im Eisenbahnwagen in Compiegne, 100 Kilometer von Paris, als Diktatfrieden empfinden, der die deutsche Souveränität einschränkt und damit nationalistischen Kräften Auftrieb verschafft. Deutschland wurde in dem Vertrag entmilitarisiert, es durfte nur ein sogenanntes 100000-Mann-Heer halten, ohne schwere Waffen, Luftwaffe, Kriegsmarine, Maßnahmen, die nicht wenige als Demütigung ansehen. Just in dieser Stimmung macht sich die Sehnsucht nach nationaler Größe breit, rechte Kreise ziehen daraus Kapital wie Hitlers aufkommende NSDAP mit ihrer Schlägertruppe der SA, die den schon vorhandenen Antisemitismus für sich nutzt und gegen Juden Stimmung macht. Es kommt zu Gewaltakten, inspiriert durch Hitlers Sprache nach dem Motto: Juden raus. Soll Deutschland bestehen, müssen die Juden untergehen. Belangt wird deswegen niemand. Mark Jones beschreibt in seinem Buch Hunderte von Vorfällen in Städten wie Bremen und Nördlingen, schildert Angriffe auf Juden in Thüringen und Ostpreußen, wo Jagd gemacht wird auf Juden, sie bespuckt und verprügelt werden und keiner kommt ihnen zu Hilfe. Ein Vorgeschmack auf das, was zehn Jahre später geschehen sollte und seinen Höhepunkt in Auschwitz hat. „Es ist aufgepeitschter Rassenhass, nicht Hunger“, der die völkischen Führer zu Raub und Mord an Juden treibt. „Jedem Passanten mit jüdischem Aussehen gehen sofort einige junge Burschen nach, um ihn im gegebenen Augenblick anzufallen.“ So die „Vossische Zeitung“. (Mark Jones „1923“)
Mild gegen Rechts
Die Weimarer Justiz erweist sich als Klassenjustiz, die milde Urteile fällt gegen rechte Mörder und hart gegen alles Linke urteilt. (S. dazu 1923- Anfang eines Krisenjahres im Deutschlandfunk)Wie Kurt Tucholsky das in der „Weltbühne“ beschrieben hat. „Für 314 Morde von rechts 31 Jahre 3 Monate Freiheitsstrafe, sowie eine lebenslängliche Festungshaft. Für 13 Morde von links 8 Todesurteile, 176 Jahre 10 Monate Freiheitsstrafe. Das ist alles Mögliche. Justiz ist das nicht.“ So Tucholsky. Und der Prozess gegen den Hochverräter Adolf Hitler, dessen Putschversuch am 9. November 1923 vor der Münchner Feldherrnhalle scheitert? Am 1. April 1924 wird Hitler zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt, obwohl österreichischer Staatsbürger, lehnt das Gericht seine Ausweisung ab. Dabei sieht das Republikschutzgesetz ausdrücklich die Ausweisung ausländischer Staatsbürger vor, die wegen Hochverrats schuldig gesprochen werden. Ein Justizskandal, wie die prorepublikanische Presse kommentiert. „Mit diesem Urteil sind die Staatsautorität und das Rechtsempfinden des Volkes zu Grabe getragen worden.“ So warnt die „Germania“ im Auftrag des Zentrums. Aber es wird noch schlimmer: Hitler wird im Dezember 1924 entlassen.