Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht am späten Abend des 19. Oktober 1992 in Bonn. Als die Mordkommission, 43 Minuten nach dem Eingang eines Notrufs um 22.10 Uhr in der Swinemünder Straße im Stadtteil Tannenbusch eintrifft, belagern schon Reporter und Kamerateams das kleine Reihenhaus. Gefunden worden waren zwei Leichen, umgekommen schon Wochen zuvor, ohne dass diese Menschen vermisst worden wären.
Unvorstellbar fast, dass deren Tod, ihre Abwesenheit 19 Tage in der kleinen Bundeshauptstadt unbemerkt geblieben war. Tragödie eines Paars, das ein gutes Jahrzehnt zuvor Friedensbewegung, Anti-Atomkraftbewegung und die Gründung der Grünen geprägt hatten. Petra Kelly (44), Ikone der neuen Bewegung und ihr Lebensgefährte, Ex-Bundeswehrgeneral Gert Bastian (69) lagen tot in ihrer gemeinsamen Wohnung. War den Ermittlern schnell klar, dass offensichtlich kein Dritter beteiligt war, wollten Freunde und Weggfeährten daran nicht glauben, Verschwörungstheorien – vom Mord durch den KGB oder amerikanischer Atomlobbyisten – sollten helfen, sich das Unvorstellbare nicht eingestehen zu müssen: dass es Bastian war, der mit Kopfschüssen aus einer Derringer-Pistole erst das Leben von Kelly und dann das eigene auslöschte.
Zwischen Realos und Fundis
Wie keine andere war Petra Kelly das Gesicht der Grünen in deren Anfangszeit, „ein Stern am Himmel“ schwärmten ihre Anhänger. Die immer ein wenig zerbrechlich wirkende Deutsch-Amerikanerin prägte den Aufstieg der jungen Partei, war deren erste Vorstandssprecherin und leitete gemeinsam mit Otto Schily die Bundestagsfraktion nach dem Einzug der Grünen 1983 ins Parlament. Von unbändiger Energie wurde sie weit über die Bundesrepublik hinaus zur Symbolfigur einer neuen Politik. Doch bald schon musste sie erleben, dass dieser angestrebte neue Politikstil in der eigenen Partei immer weniger gelebt, sie selbst zwischen den Flügeln der Realos und Fundis zerrieben wurde und als Relikt der Anfangsjahre an Einfluss und Standing verlor. Sie und Gert Bastian, der ebenfalls 1983 in den Bundestag eingezogen war, wollten sich den Spielregeln der Rotation nicht beugen. Der General, der den NATO-Doppelbeschluss nicht mittragen wollte und 1980 den Dienst in der Bundeswehr aus Protest an den Nagel gehängt und den „Krefelder Appell“ gegen das Wettrüsten initiiert hatte, war in der Gründungsphase der Grünen ein Aushängeschild, aber schon bald in der Partei der Fischers, Ditfurths und Ebermanns zum Anachronismus geworden.
Ein Paar, so bestimmend, so präsent in der Außerparlamentarischen Opposition, das dann in den Usancen des parlamentarischen Betriebs unterging. Wenn Petra Kelly ans Rednerpult des Bundestags trat, wirkte sie oft gehetzt, nervös, der Debattenpolemik nicht gewachsen. Nur wenig war geblieben von der Strahlkraft, mit der sie auf den großen Friedensdemos nicht nur ihre Anhängerinnen und Anhänger begeistert hatte.
Die parlamentarische Laufbahn Kellys endete 1990 jäh. Die westdeutschen Grünen scheiterten bei der ersten gesamtdeutschen Wahl an der Fünf-Prozent-Klausel. Und parteiintern schaffte die einstige Ikone bei der Delegiertenversammlung 1991 in Oldenburg nicht einmal mehr die Wahl in den Parteivorstand. Das war ein persönliches Desaster, aber auch ein Befund über den Zustand der Grünen. Die Partei hatte sich gehäutet, war von der Antiparteienpartei längst zum Teil des Parteienestablishments geworden. Für hoffnungslose Moralisten wie Kelly oder preußisch orientierte Rechthaber wie Bastian hatte sie kaum noch Platz. Es ging nicht mehr darum, eine Bewegung mit Leben zu füllen, sondern längst darum, an der Macht teilzuhaben.
Wie aus der Zeit gefallen lief das Paar neben dem Politikbetrieb her, obwohl Kellys Rat weltweit gefragt blieb. Überfordert und erschöpft, wollte sie sich diesem Rat nie verschließen. Ohne Apparat, ohne große Hilfe war sie für viele Menschen ein Kummerkasten, den sie waschkörbeweise mit Bettelbriefen füllten. Oft mangelte es nicht nur an der Kraft, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Es fehlte auch an Geld, um Tausende Mark Porto monatlich für die Antwortbriefe zu bezahlen. Bekannte und Freunde beschrieben ihre Gemütszustände in dieser Zeit als schwankend. Mal euphorisch, mal depressiv, ständig in einem Zustand der Überforderung.
Sie hatte viele Pläne
Was aber war das Motiv dafür, dass Gert Bastian sich und seine Lebensgefährtin erschoss? Auch dreißig Jahre nach der Tat gibt es keine schlüssigen Antworten. Der Mann, der nach Auskunft seines Sohnes, des Arztes Till Bastian, auch als Friedensbewegter häufig eine geladene Pistole bei sich trug, saß unmittelbar vor der Tat an einem Text vor seiner elektrischen Schreibmaschine, den er mitten im Satz unterbrach. Fühlte er sich als Beschützer, der Petra Kelly befreien wollte? War es eine Verzweiflungstat? War es ein gemeinsamer Wunsch der beiden nach Suizid? Das ist schwer zu glauben. Petra Kellys Terminkalender war prall gefüllt. Sie war bis ans Ende des Jahres Verpflichtungen eingegangen, hatte viele Pläne, als eine Kugel sie im Schlaf tötete. Eine endgültige Antwort gibt es nicht. Eine Tragödie? Otto Schily, der sich vor Jahren in einem Interview mit dem Zeit-Magazin warmherzig über diese „sehr beeindruckende Frau“ geäußert hat, ärgerte sich maßlos, wenn von einer „Tragödie Kelly/Bastian“ geredet wurde. „Es war keine Tragödie, sondern ein Mord, ein kaltblütiger Mord“, sagte der Jurist dem Magazin.
Petra Kelly – war sie schon in den letzten Lebensjahren bei vielen ihrer frühen grünen Mitstreiter aus dem Blick geraten, so war sie nach ihrem Tod schnell vergessen. Abgelegt wie ein „alter Waschlappen“, merkte Marieluise Beck, ihre Parteifreundin aus den Anfangsjahren, bitter an.
Der überarbeitete Text beruht auf einem Artikel aus dem Buch: Schauplatz BRD, Reisen ins Innere der Republik, Norbert Bicher, Dietz-Verlag, Bonn 2019.
Bildquelle: Von User Urning on de.wikipedia, Gemeinfrei