Noch nie ist in Deutschland Geschichte und Leben von Jüdinnen und Juden so in den Mittelpunkt unserer Gesellschaft gerückt worden, wie das in diesem Jahr geschieht. Ausgangspunkt dieser einzigartigen Darstellung jüdischen Lebens in Deutschland ist die Entscheidung der damaligen römischen Besatzungsmacht im Jahre 321, Juden in Köln zu erlauben, kommunalpolitisch tätig zu werden. Damit ist urkundlich festgehalten, dass es bereits seit 1700 Jahren einen bedeutenden Teil jüdischen Lebens bei uns gibt.
Die Idee, dem Leben und Wirken jüdischer Menschen in Deutschland ein Festjahr zu widmen, ist in Köln entstanden. Dort wurde der Verein „321 – 2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.“ am 18. April 2018 im Gemeindehaus der Synagoge Köln gegründet. Die Initiative dazu ging von den Gründungsmitgliedern Abraham Lehrer, Jürgen Rüttgers und Matthias Schreiber aus. Abraham Lehrer ist der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland und gehört dem Vorstand der Synagogen-Gemeinde Köln an. Er führt den Vorsitz der Mitgliederversammlung des Vereins. Der ehemalige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Jürgen Rüttgers, ist Vorsitzender des Kuratoriums und Matthias Schreiber aus der Landtagsverwaltung Nordrhein-Westfalen ist der 1. Vorsitzende des Vereins. Generalsekretärin ist die ehemalige stellvertretende Ministerpräsidentin von NRW, Sylvia Löhrmann.
Bei der Gründung des Vereins hatte niemand die Corona-Pandemie mit all ihren schlimmen Auswirkungen auf die Menschen und den damit einhergehenden Einschränkungen des öffentlichen und privaten Lebens im Blick. Umso bemerkenswerter ist, dass dennoch deutschlandweit rund 1000 Veranstaltungen geplant sind und auch bis heute coronakonform ausgerichtet werden. Dazu zählen Konzerte, Ausstellungen, Musik, ein Podcast, Video-Projekte, Theater, Filme und vieles andere. Ziel des Festjahres ist es, jüdisches Leben sichtbar und erlebbar zu machen und dem erstarkenden Antisemitismus etwas entgegenzusetzen. Wie wichtig dies ist und bleibt und welch hohe Aktualität dieses Ziel in diesen Wochen erlangt, machen die schlimmen Aktionen gegen Israel und gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland mehr als deutlich.
Die selbstverständliche Verteidigung Israels gegen den Raketenterror der Hamas auf die israelische Bevölkerung wird hier in unserem Land nicht nur von palästinensischen Unterstützungsorganisationen zum Anlass genommen, gegen Israel und gegen Jüdinnen und Juden zu hetzen. Angriffe auf Synagogen und brennende Israelflaggen sind dafür sichtbare Zeichen, auch tätliche Angriffe auf jüdische Menschen. Die jüdischen Gemeinden sind in Alarmstimmung. Das muss jedem Menschen die Schamröte ins Gesicht treiben.
„Das Judentum hat entscheidend zum Aufbruch Deutschlands in die Moderne beigetragen“, würdigte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beim Festakt in Köln zum Auftakt des Festjahres die Rolle von Juden und Jüdinnen. Der Bundespräsident hat die Schirmherrschaft für dieses Festjahr übernommen und ging in seiner Rede selbstverständlich auch auf die vielen schlimmen Erlebnisse ein, die Jüdinnen und Juden in den 1700 Jahren widerfahren sind. „Unser Blick in diese 1700 Jahre Geschichte muss aber ein ehrlicher sein. Nur so können wir Lehren ziehen für die Gegenwart und für die Zukunft“, sagte der Bundespräsident und erklärte weiter: „Das ist und das bleibt unsere Verantwortung! Fast immer wurden Jüdinnen und Juden als Fremde, zumindest als Andere gesehen. Die Geschichte der Juden in Deutschland ist eine von Emanzipation und Blüte, sie ist aber auch eine von Demütigung, Ausgrenzung und Entrechtung.“
Dass dieser Teil der beeindruckenden Rede des Bundespräsidenten am 21. Februar dieses Jahres schon drei Monate später wieder hohe Aktualität bekommen würde, war nicht absehbar, macht aber klar, worauf Frank-Walter Steinmeier besonders hinwies: „Ja, jüdisches Leben heute, das ist vielfältig, facettenreich, lebendig, voller Schwung. Dafür bin ich zutiefst dankbar. Aber es ist auch immer noch bedroht, ja sogar wieder stärker bedroht in einer Zeit, in der Antisemitismus sich viel offener zeigt, in der ein von Hass getriebener Attentäter eine vollbesetzte Synagoge angreift, und das am höchsten jüdischen Feiertag.“ Insofern ist das Festjahr eine ausgezeichnete Gelegenheit, durch den persönlichen Einsatz der Vielen deutlich zu machen, dass Jüdinnen und Juden ganz selbstverständlich zum Leben in Deutschland gehören, dass sie hier bei uns geschützt sind und dass alle Demokratinnen und Demokraten für sie einstehen.
Nicht nur aus unserer geschichtlichen Verantwortung in der Erinnerung an den in seiner Dimension einzigartigen Völkermord an mehr als sechs Millionen jüdische Frauen, Männer und Kinder, an die mit dieser Massenvernichtung einhergehenden Verfolgungen, Erniedrigungen, Beleidigungen und Ausgrenzungen jüdischer Menschen in Deutschland und Europa, an den Holocaust, die Shoah – alles Verbrechen, die von Deutschen in deutschem Namen und ausgehend von Deutschland begangen worden sind -, nicht nur aus dieser Verantwortung, die sich im „Nie wieder!“ konzentriert, muss von Staat und Gesellschaft alles getan werden, damit Jüdinnen und Juden frei und ohne Angst hier leben können. Und in dieser Verantwortung stehen alle Menschen in Deutschland, auch diejenigen, die sich aus welchen Gründen auch immer entschieden haben, hier leben zu wollen. Antisemitismus ist ein Straftatbestand, für ihn gibt es keine Erklärung, keine Entschuldigung, keinen akzeptablen Grund, keine Rechtfertigung.
Und zu unserer geschichtlichen Verantwortung gehört auch die Sicherung der Existenz Israels, des einzigen demokratischen Staates im Nahen Osten, der politischen Heimat der Jüdinnen und Juden in Israel und in aller Welt. Israel ist die Lebensversicherung der jüdischen Menschen, auch der in Deutschland, wie es vor kurzem Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland eindrucksvoll und schnörkellos benannt hat, denn nach der israelischen Verfassung hat jeder jüdische Mensch auf der Welt das Recht, nach Israel einzuwandern. Deutschland bekennt sich ohne Wenn und Aber zur Sicherung des Existenzrechtes Israels, dass gehört zur deutschen Staatsraison.
Selbstverständlich kann und darf die Politik der jeweiligen frei gewählten Regierung Israels kritisiert werden, auch hier in Deutschland. Das stellt niemand in Abrede. Diese Kritik gibt es auch in Israel. Aber diese Kritik berechtigt niemand, die Existenz Israels in Frage zu stellen, Israel sogar vernichten zu wollen. Und schon gar nicht berechtigt solche Kritik, gegen Jüdinnen und Juden in Deutschland vorzugehen, sie zu beleidigen, zu erniedrigen, zu verfolgen und ihre Synagogen und ihre Einrichtungen anzugreifen. Solche Hetze muss strafrechtlich verfolgt und verurteilt werden. Es ist schon schlimm genug, dass die jüdischen Gemeinden in Deutschland nicht ohne polizeilichen Schutz sein können.
1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland bleibt ein wichtiges Festjahr und es ist gut, dass dieses Festjahr in allen Bundesländern auf unterschiedliche Weise gefeiert wird. Eine Sonderbriefmarke, die Bundesfinanzminister Olaf Scholz herausgegeben hat, erinnert in besonderer Weise an die Bedeutung dieses Festjahres. „CHAI – AUF DAS LEBEN!“ steht auf ihr gedruckt. Das hebräische Wort „Chai“ bedeutet Leben und ist eines der bekanntesten jüdischen Symbole. Darauf hat Vizekanzler Olaf Scholz bei der Vorstellung des Sonderpostwertzeichens im Februar hingewiesen. Es findet sich auch im Alltag wieder. „Le’chaim („Auf das Leben“) ist ein klassischer Trinkspruch und symbolisiert die Lebensfreude. Auch um diese Lebensfreude geht es trotz aller bedrückenden Vorkommnisse in diesem Festjahr. Die Webseite 2021JLID.de gibt einen Einblick in die ganze Vielfalt dessen, was jüdisches Leben ausmacht. Und es ist gut, dass die Bundesregierung, der Deutsche Bundestag, Landesregierungen, auch unsere Landesregierung in Nordrhein-Westfalen und der Landtag das Festjahr mit öffentlichen Mitteln unterstützen und offensiv begleiten. Das Judentum, die jüdischen Menschen gehören ganz selbstverständlich zur deutschen Gesellschaft, sie leben mittendrin. Das ist gut so und das muss auch so bleiben.
Zum Autor: Norbert Römer(SPD) gehört dem Landtag NRW an, ist Vorsitzender der Parlamentariergruppe NRW – Israel und Mitglied im Kuratorium des Vereins „321 – 2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland e.V.„
Bildquelle: Zentralrat der Juden in Deutschland
Norbert Römer, eingebettet in die „political correctness“ eines Landtagsabgeordneten und als Sprachrohr des Vereinskuratoriums, kann sich natürlich in seinem Gastbeitrag den üblichen Wortballast zum deutschen Selbstverständnis „besonderer Beziehungen“ zu Israel nicht ersparen. Statt nun sich hinter den Wortbildern der Kanzlerin „Staatsraison“, des Aussenministers „Selbstverteidigung“, des Bundespräsidenten „Existenzrecht Israels“ und des Israelpremiers „Raketenterror der Hamas“ zu verstecken, wäre ihm vergönnt gewesen, den einzigartigen Beitrag der Jüdinnen und Juden über 1700 Jahre zur Kultur in Deutschland zu würdigen: Jüdische Sprache, jüdische Religion, jüdische Kultur sind über die Jahrhunderte bestimmender Bestandteil einer „deutschen Kultur“, die sich gegen die feudalistischen Kleinstaatereien deutscher Königreiche, Fürsten- und Grossherzogtümer – cuius regio, eius religio -, durch eine eigene gewachsene Kultur einer Gemeinde auszeichnete, die eben dadurch sich als Fremdkörper instrumentalisieren liess, weil in jenen 1700 Jahren die „deutschen“ sich nie gefragt haben „wer sind wir?“, sondern zumeist ihre Identität in der Antwort auf die Frage fanden: „Gegen wen sind wir denn?“ Daraus erwuchs jener Antisemitismus, der nunmehr über 2000 Jahre im Glauben -„Mörder unseres Heilands“, in der Gesellschaft – „Verbot der Stadt“ -, in Handel und Handwerk -„kein Mitglied der Zünfte“ – im nationalen Erwachen des 19. Jahrhunderts – „die Juden sind an allem schuld“ – in den „Protokollen der Weisen von Zion“ als Schmähschrift ihren Höhepunkt fand, ehe die Verachtung, Verfolgung und Vertreibung der Juden über die Jahrhunderte hinweg in der industriell verwertbaren „Vernichtung einer minderwertigen Rasse“ den „eliminatorischen Antisemitismus“ schafft, deren Schuld unsere Väter und Mütter im Nazireich uns hinterlassen haben und der allzugerne – wie Abraham Melzer es uns kundig lehrt – von den Zionisten im Kleide der jüdischen Religion instrumentalisiert wird, um die deutsche Politik aufgrund der “ Besonderen Beziehungen“ aus der Diskussion um die fragwürdige Politik Israels gegen die Palästinenser auszugrenzen. Und über dieses Thema lohnt es sich, auch nach 1700 Jahren gemeinsamer Geschichte zu streiten: Denn neben dem „Raketenterror der Hamas“ gegen Israelis gibt es den „mörderischen Drohnenterror der Israelis“ gegen die Zivilbevölkerung des Gaza, neben dem „Selbstverteidigungsrecht Israels“ gibt es ein „Selbstverteidigungsrecht Palästinas“, neben dem „Existenzrecht Israels“ gibt es ein gleiches „Existenzrecht Palästinas“ – begründet für beide allein in der UN-Resolution 181 vom 29.11.1947 -. Und wer sich zur deutschen Schuld und Verantwortung nach Holocaust und Shoah – wie die Kanzlerin – mit den Worten bekennt „Die Sicherheit Israels ist Staatsraison Deutschlands“, darf den anderen Satz nicht vergessen „Die Sicherheit Palästinas ist Staatsraison Deutschlands“. Wer Krieg nicht verhindern kann, sollte Frieden nicht vergessen, lieber Herr Römer, der nur erzielt werden kann, wenn man beiden Seiten Gehör schenkt. Shalom!
@Albert Klütsch: „Denn neben dem „Raketenterror der Hamas“ gegen Israelis gibt es den „mörderischen Drohnenterror der Israelis“ gegen die Zivilbevölkerung des Gaza“ …
?!
Dazu zitieren ich Hannes Stein:
„Bei der Verteidigung der eigenen Bevölkerung hat die Armee sich an die Regeln des Kriegsvölkerrechts zu halten. Die sind klar und einfach: Es ist verboten, auf Zivilisten und zivile Einrichtungen zu zielen. Es ist erlaubt, militärische Einrichtungen und gegnerische Kämpfer ins Visier zu nehmen. Wenn die andere Seite ihre Zivilisten als Geiseln missbraucht, indem sie z.B. Raketenbatterien inmitten von Wohngebieten oder auf den Dächern von Krankenhäusern installiert, so ist das tragisch und grauenhaft. Aber wenn die israelische Armee nicht Stellungen der Hamas bombardieren würde, würde sie ihren Job nicht machen, der, jawohl, manchmal ein verdammter Job ist.“
Quelle: https://www.salonkolumnisten.com/zehn-saetze-ueber-israel/
Wer aus Wohngebieten heraus auf Israel schießt, hat die zivilen Opfer der Gegenangriffe einkalkuliert und hofft auf die einsetzende Empörung.