Das Klischee sitzt tief. Vor wenigen Tagen machte mir einer Mut, der es gut meint mit der nordrhein-westfälischen Landesregierung. Er erzählte mir, dass er überall darauf hinweisen würde, wie sehr dieses Land am tiefgreifenden Strukturwandel von der ehedem dominierenden Schwerindustrie zu einem breit gefächerten leistungsfähigen Industrie-, Dienstleistungs- und Forschungsstandort zu tragen hat. Es sei doch klar, so der wohlwollende Mann, dass dieser Wandel dazu führe, dass Nordrhein-Westfalen pro Einwohner mehr Geld in die Hand nehmen müsse und einen höheren Schuldenstand aufgehäuft habe als der Durchschnitt der Länder.
Kaum jemand realisiert, dass NRW die niedrigsten Pro-Kopf-Ausgaben aller Länder hat
Ich sehe noch das ungläubige Gesicht vor mir, als ich ihm dankend erwiderte, dass sein Bild von Nordrhein-Westfalen nur einen Fehler habe: Nordrhein-Westfalen gibt pro Einwohner gar nicht mehr aus als der Durchschnitt, sondern deutlich weniger. Und das Land hat pro Kopf der Bevölkerung auch nur einen durchschnittlichen Schuldenstand. Die Größe des Landes führt allerdings dazu, dass die absoluten Zahlen immer die höchsten unter allen Ländern sind. Deutschland hat auch mehr Schulden als das viel kleinere Griechenland – aber eben nicht pro Kopf der Bevölkerung. So ist das auch mit NRW im Vergleich mit den meist viel kleineren Bundesländern. Pro Kopf der Bevölkerung steht NRW nicht schlecht da.
Im Gegenteil: alle übrigen fünfzehn Bundesländer sind wesentlich ausgabefreudiger als Nordrhein-Westfalen, obwohl in den dicht besiedelten Großstadtregionen von NRW pro Einwohner ganz sicher nicht weniger Lehrerinnen und Lehrer, nicht weniger Polizistinnen und Polizisten benötigt werden als in den weitestgehend ländlich geprägten Räumen der anderen Bundesländer. Wer weiß zum Beispiel schon, dass der große Freistaat Bayern, nach Einwohnern die Nummer zwei hinter NRW, gerade mal drei Städte mit mehr als einer Viertelmillion Einwohnern hat, Nordrhein-Westfalen aber zwölf. Nordrhein-Westfalen könnte aber statt eines Haushalts mit 62,5 Milliarden Euro Ausgaben fast 69 Milliarden Euro und damit 6,2 Milliarden Euro mehr für Bildung, Infrastruktur, Sicherheit und sozialen Zusammenhalt investieren, um auf die Pro-Kopf-Ausgaben von Bayern zu kommen. Im Klartext: Bayern gibt pro Einwohner zehn Prozent mehr aus als Nordrhein-Westfalen. Die Ausgaben Baden-Württembergs liegen sogar mehr als 14 Prozent über denen von NRW.
Noch drastischer wird es, wenn man sich vorstellt, dass die Ausgaben Nordrhein-Westfalens über 15 Milliarden Euro höher sein dürften, um auf die Pro-Kopf-Ausgaben der ostdeutschen Flächenländer zu kommen. Pro Einwohner stehen dort 26 Prozent mehr zur Verfügung als an Rhein und Ruhr – und das, obwohl in den ostdeutschen Ländern keine hohen Pensionskosten den Haushalt belasten, weil es dort vor 1990 keine Beamten gab. NRW zahlt jedes Jahr mit rund sechs Milliarden fast jeden zehnten Euro im Landeshaushalt für Pensionen, gibt aber über alle Ausgaben gerechnet viel weniger aus. Es ist doch klar, dass so ein Unterschied sich bei der Qualität der Infrastruktur oder den Ausbaustandards im Bildungswesen über kurz oder lang sichtbar niederschlägt.
Das gegenwärtige System führt zur Überkompensation bei den ostdeutschen Ländern
Würden wir in NRW so viel investieren wie im Osten der Republik, dann hätten wir allerdings nicht ein Defizit von rund drei Milliarden, sondern uns würden dann über 18 Milliarden Euro zum Haushaltsausgleich fehlen. Die Länder in Ostdeutschland haben aber ausgeglichene Haushalte, teilweise sogar Überschüsse, und das, obwohl deren eigene Steuerkraft pro Einwohner um tausend Euro unter der Nordrhein-Westfalens liegt. Wie ist das möglich? Die Antwort: Diese Länder erhalten durch den Ausgleich zwischen den Ländern und durch Ergänzungsleistungen des Bundes so viel Stütze, dass es mehr als reicht, um auf Kredite verzichten zu können. So etwas nennt man Überkompensation.
Ohne diese Stütze der Solidargemeinschaft müssten die ostdeutschen Länder 23 Milliarden an Krediten aufnehmen. Das bleibt ihnen durch die Leistungen der Solidargemeinschaft von Bund und Ländern erspart. Aber müssen die anderen dafür sorgen, dass diese Lücke nicht nur vollständig geschlossen wird, sondern dass etwa Brandenburgs Finanzminister im Berliner „Tagesspiegel“ vom 17. November 2014 stolz verkünden kann, dass sein Land sogar eine Rücklage von 700 Millionen Euro für schlechte Zeiten bilden konnte? Nordrhein-Westfalen als sparsamstes aller sechzehn Bundesländer zahlt über die Umsatzsteuer sogar in die Umverteilung ein und braucht dann Kredite, um diese Pflicht erfüllen zu können. Wir machen Schulden, damit andere keine Schulden machen müssen und Polster bilden können.
Auch für uns gilt ab 2020 das Verbot der Aufnahme zusätzlicher Kredite. Das bedeutet, dass wir anders als andere nicht so in Infrastruktur, nicht so in Bildung investieren können, wie das zur Zukunftssicherung nötig wäre und erst recht nicht so, wie es andere mit deutlich schlechteren Ausgangsvoraussetzungen tun können. Die Folgen der Unterfinanzierung bleiben nicht aus.
Während selbsternannte Besserwisser sich jeder Beschäftigung mit den Fakten verschließen, um ihr Bild von der „desaströsen“ Finanzpolitik bloß nicht revidieren zu müssen, hat die Wirtschaft des Landes die Lage erkannt. Sie unterstützt mittlerweile vernehmbar, was Ministerpräsidentin Hannelore Kraft und ich seit Jahren fordern: Wir müssen mehr von der Wirtschaftskraft des bevölkerungsreichsten Bundeslandes für Investitionen in die eigene Infrastruktur, in die eigene Bildungslandschaft und für die Erledigung seiner Aufgaben behalten dürfen.
Regionen mit Nachholbedarf müssen Anschluss finden können – aber nicht um den Preis, dass leistungsfähige Regionen zurückfallen.
Wie es jetzt ist, ist es nicht gerecht. Wir wollen den solidarischen Ausgleich der Finanzkraft zwischen den Ländern, damit keine Region zurückfällt und zurückgebliebene aufschließen können. Die Vielfalt und die vielen Zentren von Berlin bis Köln und Düsseldorf, von Hamburg bis München, mit Frankfurt, Stuttgart, Bremen, Hannover, Dortmund, Nürnberg, Dresden, Leipzig und vielen weiteren ist im internationalen Umfeld einzigartig. Andere europäische Staaten haben ein oder zwei Zentren, der Rest hängt an deren Tropf. Das ist unsere Stärke und die müssen wir erhalten.
Im jetzt geltenden System droht aber der Bedarf des Westens zu kurz zu kommen. Das System muss dringend neu justiert werden. Wer mehr ausgibt, was ja mit größerem Nachholbedarf durchaus begründet sein kann, der darf am Ende jedenfalls nicht so viel an Unterstützung erhalten, dass er weniger defizitär ist als die, die die niedrigsten Ausgaben haben. Woher sollte sonst der Anreiz kommen, die Ausgaben Schritt für Schritt an den Durchschnitt anzupassen?
Egal, warum das Ausgleichs- und Ergänzungssystem zwischen Bund und Ländern schief ist, ob wegen der nicht nachvollziehbaren und auch nicht akzeptablen Sonderbehandlung der Umsatzsteuer oder der eklatanten Ungleichgewichte bei den Zuweisungen von Bundesmitteln, egal auch, warum Ausgaben in einem Land hoch und in einem anderen niedrig sind: Entscheidend ist, dass sie in Nordrhein-Westfalen am niedrigsten sind, entscheidend ist, dass Nordrhein-Westfalen über die fünfthöchste Steuerkraft verfügt. Ist es da zu viel verlangt, wenn wir fordern, dass ein Land mit einem solchen Einnahmen- und Ausgabenniveau am Ende nicht schlechter dastehen darf als die, die über ein Viertel mehr ausgeben als NRW, aber aus eigener Kraft nur die Hälfte einnehmen?
Die Tatsachen stehen im krassen Gegensatz zum Klischee von Nordrhein-Westfalen, wie es von interessierter Seite gern verbreitet und selbst von wohlwollenden Zeitgenossen geglaubt wird. Um keinen Zweifel aufkommen zu lassen: Auch das Land mit den niedrigsten Ausgaben muss weiter jede Ausgabe daraufhin überprüfen, ob sie überhaupt und wenn ja, ob sie in dieser Höhe nötig ist. Aber wenn das Land mit den niedrigsten Pro-Kopf-Ausgaben in erster Linie ein Ausgabenproblem haben soll, was haben dann die anderen? Nordrhein-Westfalen hat die zweitniedrigste Zahl an Landesbediensteten aller Bundesländer – egal, ob man die Kommunen mitzählt oder nicht. Was steht dieser Republik bevor, wenn ausgerechnet hier massiv Personal abgebaut werden soll und andere dieses Niveau dann ja wohl auch anstreben müssen? Kein Wunder, dass Sparvorschläge der Opposition pauschal und undifferenziert sind, während alles, was konkret beschrieben wird, in der Forderung nach mehr Geld mündet.
Ein Nullsummenspiel wird die staatliche Unterfinanzierung nicht lösen – ein gerechter Ausgleich führt aber dazu, dass das allen bewusst wird
Die Ländergesamtheit hat ein Einnahmeproblem – daran lässt eine unvoreingenommene Betrachtung keinen Zweifel. Die Lösung dieses Einnahmeproblems liegt aus dem Blickwinkel Nordrhein-Westfalens betrachtet aber nicht in höheren Steuern, sondern in einer gerechten Verteilung der Finanzen von Bund und Ländern. Machen wir uns aber nichts vor: In dem Maß wie die gerechte Mittelverteilung dazu führen würde, dass NRW als das Land mit den niedrigsten Ausgaben keine Haushaltslöcher mehr hat, würden sie bei denen sichtbar, die mehr ausgeben und ihre Haushaltslöcher bisher mit Ausgleichsmitteln stopfen.
Das heißt: Die Finanzdecke ist insgesamt zu knapp. Deshalb bleibt es für alle wichtig, dafür zu sorgen, dass Steuern auch bezahlt und nicht hinterzogen oder umgangen werden. Dann bleiben die Investitionen und Staatsleistungen, die die Menschen zu Recht von einem entwickelten Gemeinwesen erwarten dürfen, auch finanzierbar. Dann haben es auch die notorischen Besserwisser schwer, Legenden vom Schuldenland NRW zu schmieden und sich auf ein Land einzuschießen, das nachweislich sparsamer mit Steuermitteln umgeht als alle anderen.
Bildquelle: © Jochen Tack / Finanzministerium NRW
Der Ausgabenvergleich pro EW, den Finanzminister Walter-Borjans anstellt, enthält nicht die Ausgaben der Gemeinden und Landschaftsverbände. Unter Einschluss der Kommunalausgaben lagen die Ausgaben in NRW pro Einwohner 2013 über dem Bundesdurchschnitt und über dem Durchschnitt der westdeutschen Flächenländer (einerlei ob mit oder ohne NRW).