Nicht erst die bundespolitischen Aspekte der letzten Landtagswahlen lassen vermuten, dass sich die Berliner Republik langsam aber sicher zu einer Art „Merkelkratie“ entwickelt: Es passt voll zu diesem Trend, dass ausgerechnet in einer politischen Phase, in der die europäische Führungsrolle Angela Merkels in vielen Mitgliedsstaaten der EU massiv in Frage gestellt wird, die bundespolitische Machtstellung der Kanzlerin ständig stärker wird.
Merkel-Kult trotz Legitimationskrise
Gerade jetzt, in der auch innerparteilich schwierigsten Legitimationskrise ihrer Regierungszeit, die durch schiere Verzweiflung an der CDU-Basis und eine hartnäckige Konfrontation mit der CSU-Führung um den richtigen Weg aus der europäischen Flüchtlingskrise geprägt ist, hat Angela Merkel ihre Dominanz in der Funktionselite der Berliner Republik massiv gefestigt: Die Stimmen der Unterstützung und Bewunderung reichen von den Fraktionsspitzen im Deutschen Bundestag über Wirtschaft, Kirchen, Kultur bis hin zu fast allen Leitmedien. Dieser immer noch anschwellende parteiübergreifende Merkel-Kult wurde auch nicht durch die unübersehbare Kritik aus vielen Nachbarländern gebremst, dass Angela Merkels europäisches Krisenmanagement die Entsolidarisierung, ja Zerrissenheit der EU dramatisch verstärke. Keiner hat den parteiübergreifenden Merkel-Kult so spektakulär zum Ausdruck gebracht wie der baden-württembergische grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann mit seinem öffentlichen Bekenntnis, dass er täglich für Angela Merkel bete.
Gebremste Kritikfähigkeit von SPD und Grünen
SPD und Grüne greifen schon jahrelang die kontraproduktive Wirkung der von Berlin in der Eurozone durchgesetzten einseitigen Austeritätspolitik nur halbherzig an, obwohl die wirtschaftlichen, finanziellen und sozialen Folgen in den Krisenländern verheerend sind. Die Kritikfähigkeit von SPD und Grünen gegenüber der Europapolitik Angela Merkels wird ganz generell schon dadurch gebremst, dass die Sozialdemokratie das bestehende Koalitionsbündnis auf Bundesebene schonen will und die Grünen ihr für die Zeit nach der Bundestagswahl 2017 anvisiertes bundespolitisches Bündnis mit der Union nicht gefährden wollen. In solch einem bundespolitischen Umfeld kann Angela Merkel dann trotz kritischer Stimmen in der eigenen CDU/CSU- Fraktion ihre „alternativlose Politik“ für Europa mühelos durchsetzen. Die vehemente Kritik der Linken am einseitigen Austeritätskurs in der Eurozone verhallt dagegen resonanzlos und für die Außenwelt nicht mehr hörbar unter der gläsernen Reichstagskuppel.
Die ungefährdete Dominanz der Kanzlerin im Deutschen Bundestag wird auch in der europäischen Flüchtlingskrise deutlich. Dabei ist Angela Merkels grundsätzlicher Kurs hier keineswegs so widerspruchsfrei wie es die Loyalitätsbekundungen über alle Fraktionsspitzen hinweg vermuten lassen.
Widersprüche in der Flüchtlingspolitik
Es geht hier nicht um die Binsenweisheit, dass die Flüchtlingskrise nur mit einem europaweiten Ansatz erfolgreich zu meistern ist. Es geht vielmehr um die tiefen Widersprüche im konkreten Reden und Handeln der Bundeskanzlerin, wenn man ihre politische Linie in der Migrationsfrage nüchtern und konkret betrachtet. Hierzu einige Fakten:
- Eine ernstzunehmende Analyse darf den Vorlauf der heutigen Krise nicht ausblenden: Der IS-Terror – eine zentrale Ursache der heutigen Flüchtlingskrise in Europa- entstand unbestreitbar als eine der unseligen Folgen des Irak- Kriegs. Eine empörte Angela Merkel aber attackierte damals die Kritik ihres Vorgängers Gerhard Schröder an den Kriegsvorbereitungen des amerikanischen Präsidenten George W. Bush für eine Irak-Intervention, sogar beflissen auf einer USA- Reise, wie einen unverantwortlichen transatlantischen Sündenfall.
- Die Bundesregierung hat sich jahrelang um die Flüchtlingsprobleme Griechenlands und Italiens nicht ernsthaft gekümmert und diese EU-Mitgliedsstaaten vor dem rapiden Anstieg der Flüchtlingszahlen in Deutschland völlig unsolidarisch allein gelassen. Auch die ständigen Warnungen des Entwicklungsministers der Großen Koalition, Gerd Müller, der seit seinem Amtsantritt eindringlich davor warnt, dass eine schlechtere Versorgung in den Flüchtlingscamps an der Peripherie der Kriegshandlungen in Syrien und dem Irak eine Massenflucht nach Europa auslösen muss, führte bis ins letzte Jahr hinein nicht zu wirksamen Konsequenzen.
- Noch 2010 stand die Bundeskanzlerin mit zumindest fahrlässiger Wortwahl an der Spitze der Agitation gegen „ Multikulti“ in Deutschland und proklamierte auf dem Deutschlandtag der Jungen Union in Potsdam ganz grundsätzlich: „Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert, absolut gescheitert“. Die Union hat dann auch immer ein Zuwanderungsgesetz für eine geregelte Migration wie in den Einwanderungsländern USA oder Kanada blockiert. Dass deshalb heute Teile der Bürgerschaft einige Schwierigkeiten haben, die Zuwanderung auch als große Chance zu begreifen, ist vor diesem Hintergrund nicht überraschend.
- Die deutsche Bundeskanzlerin operierte durch ihren Coup bei der Vorbereitung des Deals mit der Türkei so unabgestimmt, dass auch ihre besten Partner in der EU anschließend kompromittiert waren, darunter nicht zuletzt der stets bis zur Selbstverleugnung loyale EU- Ratspräsident Donald Tusk. Es ist zu erwarten, dass genau solche groben Fehler jetzt bei der politischen Umsetzung des sehr problematischen „Türkei-Deals“ zu neuen Schwierigkeiten und Friktionen führen.
„Alternativlose Politik“ und demokratisches Vakuum
Vor dem Hintergrund dieser Widersprüche und Fehlerspur muss man auch als überzeugter Anhänger der Willkommenskultur in den konkreten und praktischen Fragen der Flüchtlingspolitik Angela Merkels kritikfähig und kritikoffen bleiben. Unzureichende Antworten auf Fragen und Ängste, die nur reflexartig mit dem Hinweis auf eine„alternativlose“ europäische Strategie zur Bewältigung der Flüchtlingskrise formelhaft abgeschmettert werden, erzeugen inzwischen in Deutschland ein gefährliches demokratisches Vakuum.
Aber auch ganz generell hat die seit Jahren von Angela Merkel propagierte scheinbar „alternativlose Politik“ in Europa in Verknüpfung mit dem überparteilichen Merkel-Kult zur Verkümmerung der demokratischen Debattenkultur in der Bundesrepublik geführt. Dieser nicht nur im Bundestag zu beobachtende Verlust an Kontrasten und Alternativen und ein dadurch entstandenes demokratisches Vakuum führen einerseits zur Schrumpfung beider Volksparteien und andererseits zu fulminanten Wahlerfolgen der AfD.
Entscheidend aber ist: Die AfD kommt dabei mit ihrem kruden, peinlichen und skandalösen Programmwirrwarr nicht etwa durch eigene Stärke zum Erfolg, sondern allein durch die schleichende Verkümmerung der kontrastlosen demokratischen Debatte zwischen den etablierten Parteien. Dies ist eine zentrale Schwäche unserer demokratischen Kultur, die nach der nächsten Bundestagswahl 2017 die Struktur der Berliner Republik fundamental verändern könnte.
Die Rolle der SPD als Volkspartei ist existentiell gefährdet
Die klassische Balance unserer Nachkriegsdemokratie wäre bei Fortsetzung dieses Trends nicht mehr existent, weil die SPD als Gegenpol zur Union nicht mehr den Anspruch stellen könnte, als Kanzlerpartei zu fungieren. Denn wenn die AfD und die FDP -mit einem bundespolitisch absehbaren Comeback- in den nächsten Bundestag einziehen, bleibt auch die SPD nur noch auf die Rolle der Mehrheitsbeschaffung reduziert. Sie könnte dann auch theoretisch nicht mehr als führende Regierungspartei die Union in die Opposition schicken, weil sie gegen diese schon rein rechnerisch keine Koalitionsmehrheit mehr bilden könnte.
Sigmar Gabriel und die sozialdemokratische Parteiführung müssen daher jetzt mit Blick auf die nächste Bundestagswahl Profil und Strategie der SPD weit grundsätzlicher überdenken, als es in den beschönigenden Kommentierungen der letzten Landtagswahlen zum Ausdruck kam. Die SPD-Führung kann jetzt nicht einfach weiter „business as usual“ machen und sehenden Auges 2017 die 20 Prozent- Marke von oben knacken. Die gefährdete Rolle als Volkspartei ist für die deutsche Sozialdemokratie eine existentielle Herausforderung.
Von der Berliner Republik zur „Merkelkratie“?
Wenn der gegenwärtige Trend anhält, hätte paradoxerweise auch eine geschrumpfte Union im neuen Deutschen Bundestag eine absolute Monopolstellung als führende Regierungspartei. Und die Inkarnation für eine dann multivariante Koalitionsfähigkeit der Union wäre Angela Merkel, weil keine andere Führungspersönlichkeit der Union die freie Wahl des Koalitionspartners zwischen SPD, Grünen und FDP so ideal garantiert wie sie.
Aus der Berliner Republik würde dann eine Art „Merkelkratie“. Diese steht zwar nicht im Grundgesetz, wäre aber dann gelebte Verfassungswirklichkeit.
Bildquelle: Wikipedia, Tobias Koch – OTRS, CC BY-SA 3.0