Das Jahr 2018 wartet mit etlichen deutschen „runden“ Gedenktagen auf:
Vor 100 Jahren ging der Erste Weltkrieg zu Ende, die erste deutsche Republik wurde ausgerufen. Seit 100 Jahren haben Frauen das aktive und das passive Wahlrecht. Vor 95 Jahren scheiterte der Hitler-Ludendorff-Putsch, mit dem die Republik beseitigt werden sollte. Vor 80 Jahren erlebte der Terror des NS-Staates gegen die Juden mit den November-Pogromen einen weiteren Höhepunkt.
Vor allem aber ist 2018 das Jahr, in dem wir gleich dreier deutscher Revolutionen (in einem Fall eher einer Revolte) gedenken. Vor 170 Jahren erschütterte die bürgerliche Revolution von 1848 die feudalen Fürstenhäuser in Deutschland, vor allem die Großmacht Preußen. Vor 100 Jahren führte die Novemberrevolution zum Zusammenbruch des Kaiserreichs und zum demokratischen Neuanfang der Weimarer Republik. Vor 50 Jahren schließlich probte die (überwiegend studentische) Jugend den Aufstand gegen reaktionäre Verkrustungen, was Konservative den Achtundsechzigern immer noch ankreiden, was aber unbestreitbar in einen demokratischen Neuanfang mündete. Die nachhaltigste Revolution war sicherlich die von 1848, sie lebt – in vielfacher Hinsicht – bis heute weiter.
Politik machen, Tradition pflegen, Bürsten binden
Der 75-jährige Diplomkaufmann Volker Schröder ist nicht nur in Berlin, sondern längst weit darüber hinaus ein bekannter und angesehener Mann. Jetzt, am 18. März 2018, hat er wie jedes Jahr wieder einen großen Auftritt – vor dem Brandenburger Tor und auf dem Friedhof der Märzgefallenen in Berlin-Friedrichshain zur Feier des 170. Jahrestages der Revolution von 1848. Und erstmals auch auf dem großen jüdischen Friedhof Schönhauser Allee, gemeinsam mit dem Rabbiner Andreas Nachama. Festredner am Brandenburger Tor ist diesmal Hermann-Otto Solms. In Friedrichshain wird ein von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier gestifteter Kranz niedergelegt.
Fester Bestandteil der März-Feiern ist traditionell das gemeinsame Singen von Liedern aus dem Vormärz – „Die Gedanken sind frei“, „Die freie Republik“ und allen voran Ferdinand Freiligraths „Trotz alledem!“.
Volker Schröder ist Initiator und Sprecher der vor 40 Jahren gegründeten „Aktion 18. März“, die sich auf die „demokratisch-revolutionäre Tradition“ von 1848 beruft. Für dieses Engagement bekam er 1999 das Bundesverdienstkreuz. Als „Bürstenschröder“ hält er im Nebenberuf die 1866 begründete Familientradition des Bürstenmachers aufrecht. Als früherer Schatzmeister der Berliner Grünen begann er seine jährlichen Rechenschaftsberichte stets mit einem Handstand, um zu zeigen, dass in seinen Taschen kein Pfennig Parteigeld mehr steckte.
Politik machen, Tradition pflegen, Bürsten binden: Für Schröder sind das keine Widersprüche. Schon als junger Mann war es für ihn vereinbar, bei der Bundeswehr bis zum Leutnant aufzusteigen, als Student einer ultralinken K-Gruppe anzugehören und, wie er sagt, „die richtige Position in der nationalen Frage zu haben und etwas für die Einheit Deutschlands zu tun“. Für ihn ist der 18. März 1848, als in Berlin „das Militär des preußischen Königs vor den Kämpfern für Freiheit und Demokratie kapitulierte“, der „Geburtstag der Demokratie in Deutschland“.
Der Anfang des modernen Verfassungsstaates
Die Revolution von 1848 stand am Anfang des modernen Verfassungsstaates. Als Antwort auf die Restauration durch den Wiener Kongress von 1815, der die demokratischen Errungenschaften der französischen Revolution von 1789 zerschlug und die Herrschaft der Fürstenhäuser wiederherstellte, waren in Europa schon bald bürgerliche Freiheitsbewegungen entstanden.
Das früheste herausragende Ereignis in Deutschland war 1832 das Hambacher Fest nahe Neustadt an der Weinstraße, auf dem erste demokratische Grundrechte formuliert wurden. Die deutsche Revolution von 1848 schließlich erhob die so genannten „Märzforderungen“: Pressefreiheit, Einrichtung von Schwurgerichten, Volksbewaffnung, Berufung eines nationalen Parlaments. Nach den Kämpfen in Berlin am 18./19. März musste das Militär des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm IV. kapitulieren.
In der Folge trat in der Frankfurter Paulskirche das erste demokratische Parlament, die deutsche Nationalversammlung, zusammen. Sie verabschiedete 1849 die erste freiheitliche, jedoch nie in Kraft getretene Paulskirchen-Verfassung, auf der später die Weimarer Reichsverfassung und das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland fußten.
Im Frühjahr 1849 flammten die Aufstände in Baden und in der Pfalz erneut auf. Sie wurden von Truppen unter der Führung des preußischen Prinzen Wilhelm, des späteren Kaisers Wilhelm I., in Rastatt blutig niedergeschlagen. Im dortigen Schloss befindet sich heute die Erinnerungsstätte für die Freiheitsbewegungen in der deutschen Geschichte.
Platz des 18. März statt Dr.-Helmut-Kohl-Platz
Im Herbst 1978 entstand bei Volker Schröder und einer Handvoll Gleichgesinnter die Idee, den 18. März als „Nationalfeiertag in beiden deutschen Staaten“ zu fordern. Die Schirmherrschaft der Aktion übernahmen die Schriftstellerin Ingeborg Drewitz und der ehemalige Berliner Bürgermeister Heinrich Albertz (SPD). Von Anbeginn dabei waren die prominente CDU-Politikerin Hanna-Renate Laurien und der Hagener Professor Peter Brandt, ein Sohn des früheren Bundeskanzlers Willy Brandt. Inzwischen ist das Spektrum enorm breit, die Brüder Hans-Jochen Vogel (SPD) und Bernhard Vogel (CDU), der Schriftsteller Martin Walser und der Polit-Künstler Klaus Staeck gehören ebenso dazu wie die SPD-Politiker Walter Momper und Wolfgang Thierse, die Grünen Renate Künast, Hans-Christian Ströbele und Reinhard Bütikofer, der FDP-Mann Hermann Otto Solms oder die Linken-Abgeordnete Petra Pau.
Große Resonanz hatte das Vorhaben anfangs nicht. In der Bundesrepublik fand es kaum Fürsprecher in den entscheidenden Politiketagen. Und den Oberen in der DDR war dieses von Leuten aus dem Westen vorgetragene Anliegen eh höchst suspekt, weil zu unabhängig und freisinnig. „Wenn wir damals am 18. März nach Ostberlin gingen, um die Gräber der März-Gefallenen zu besuchen, nahmen sie uns schon an der Grenze die Blumen und Kränze ab“, berichtete gerne der kürzlich im 92. Lebensjahr verstorbene Manfred Heckenauer von der „Aktion 18. März“. „Und auf dem kleinen Friedhof in Friedrichshain stand hinter jedem Baum ein Stasi-Mensch.“
Nach der Wende vom Herbst 1989 wurde ein weiterer Versuch gestartet, den 18. März zum Nationalfeiertag auszurufen, erfolglos: 1990 proklamierte die Regierung Kohl den 3. Oktober zum neuen „Tag der deutschen Einheit“. Aber es geht ja auch eine Stufe darunter. Die Aktion setzt seitdem darauf, zumindest einen „Gedenk- und Feiertag“ in Erinnerung an 1848 zu schaffen. Volker Schröder, ein notorischer Optimist, sieht da durchaus Chancen: „Schließlich haben wir ja auch den ,Platz des 18. März’ vor dem Brandenburger Tor durchgesetzt.“
Das war im Juni 2000, nach mehrjährigem politischen Streit. Teile der Berliner CDU lehnten es vehement ab, den „Platz vor dem Brandenburger Tor“, wie der Ort früher hieß, nach der März-Revolution von 1848 zu benennen. Der heimliche Grund war wohl, dass die Union ihn auf den Namen des ehemaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl taufen wollte. Erst als dieser Anfang 2000 tief in einem Millionen-Spendenskandal steckte und als Namensgeber nicht mehr taugte, war der Weg zur Umbenennung frei.
Auch diesen Teil der 170-jährigen Geschichte der Revolution von 1848 wird Volker Schröder, steht zu erwarten, bei der Feier am 18. März 2018 erwähnen; wie immer angetan mit breitrandigem Hut und Bundesverdienstkreuz am „revolutionären Kampfmantel“.
Ich sterbe für die Freiheit. Brüder, zielt gut!
Am 18. März 1848 kapitulierte das Militär des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. vor den Kämpfern für Freiheit und Demokratie. Der König musste seinen Hut vor den toten Revolutionären ziehen, die in blumengeschmückten Särgen vor das Stadtschloss der Hohenzollern getragen wurden. 306 Barrikadenkämpfer verloren ihr Leben. 183 zivile Opfer wurden am 22. März 1848 auf dem neu angelegten Friedhof in Friedrichshain beerdigt.
Während Friedrich Wilhelm IV. durch seine Demutsgeste den Volkszorn etwas abfangen konnte, musste sein beim Volk verhasster Bruder Wilhelm, der spätere preußische König und deutsche Kaiser Wilhelm I., nach England fliehen und konnte erst nach einem guten Vierteljahr nach Preußen zurückkehren. Die Berliner sangen derweil Spottlieder auf ihn: „Schlächtermeister Prinz von Preußen / komm doch, komm doch nach Berlin! / Wir wollen dich mit Steinen schmeißen / und die Barrikaden zieh’n.“
Wegen seiner Rolle bei der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 als preußischer Oberbefehlshaber war ihm der Beiname „Kartätschenprinz“ gegeben worden – nach jener mörderischen Kanonenmunition, deren Einsatz heutzutage wohl völkerrechtlich als Kriegsverbrechen geächtet wäre.
Die Bezeichnung geht zurück auf den aus dem Potsdamer Großbürgertum stammenden Freiheitskämpfer Max Dortu, der 1849 von einem preußischen Militärgericht zum Tode verurteilt und mit gerade einmal 23 Jahren in Freiburg hingerichtet wurde. Legendär sind seine letzten Worte an das Erschießungskommando: „Ich sterbe für die Freiheit. Brüder, zielt gut!“
Der preußische Staat (und namentlich der König selbst) tat in der Folgezeit alles, die Erinnerung an Max Dortu auszulöschen. Sein Leichnam durfte nicht in Potsdam beigesetzt werden. Seine Mutter ließ 1860 an der Hinrichtungsstätte in Freiburg ein kleines Mausoleum für ihren Sohn errichten. Heute sind in Potsdam, Freiburg und Karlsruhe Straßen nach Max Dortu benannt, in Potsdam auch eine Grundschule.
Nationales Selbstverständnis der Deutschen bleibt ein Thema
Prof. Dr. Peter Brandt, bis zu seiner Emeritierung Leiter des Lehrgebiets Neuere deutsche und europäische Geschichte und Direktor des interdisziplinären Instituts für europäische Verfassungswissenschaften der Fernuniversität Hagen, gehört seit ihrer Gründung zur „Aktion 18. März“. Er habe 1978 die Idee von Volker Schröder unterstützt, „weil mir der Gegenstand der Kampagne, die Erinnerung an die Märzrevolution, den ersten Versuch zur Errichtung eines liberal-demokratischen Verfassungsstaats in ganz Deutschland, einschließlich der europäischen Dimension der Ereignisse, wichtig und wertvoll war“, sagte Brandt einmal in einer Publikation der „Aktion 18. März“. Zugleich habe er in der auf beide Separatstaaten zielenden Losung „18. März-Nationalfeiertag“ einen „geschickt subversiven Versuch“ gesehen, die damals ungelöste Deutsche Frage „auf eine Art und Weise zu thematisieren, die von den jeweils etablierten Kräften nicht so leicht als staatsgefährdend zurückgewiesen werden konnte, zudem mit einer zweifelsfrei demokratisch-emanzipatorischen Stoßrichtung“. Auch nach der Vereinigung Deutschlands seien seine Motive aus den späten 1970er Jahren noch gültig: „Das nationale Selbstverständnis der Deutschen bleibt ein Thema.“
Was die Revolution von 1848 für die SPD bedeutet habe, wurde Peter Brandt gefragt: „Die klassische Sozialdemokratie vor 1933 orientierte sich in ihrem Nationsverständnis und in ihrer Kritik am konstitutionell-monarchischen Obrigkeitsstaat an den deutschen Freiheitsbewegungen, namentlich an der Revolution 1848/49. Der 18. März war einer der wichtigsten, öffentlich begangenen Gedenktage der deutschen Arbeiterbewegung. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging das Interesse daran, wie das historische Bewusstsein überhaupt, sukzessive zurück, wie man einräumen muss.“ Sein Vater, der Bundeskanzler und langjährige SPD-Vorsitzende Willy Brandt, habe jedenfalls die Pflege der Tradition deutscher Freiheitsbewegung, namentlich der Revolution von 1848/49, immer „sehr befürwortet“.
Für Peter Brandt bedeutet das Datum 1848 vor allem dies: „Es wird heute viel über den mangelnden Zusammenhalt der Gesellschaft geklagt. Das ist im Kern ein soziales Problem; es hat aber auch eine national-kulturelle Dimension. Gerade weil die Belastung Deutschlands mit den NS-Verbrechen heute als Herausforderung für Gegenwart und Zukunft auch den breiten Schichten des Volkes bewusst ist, müssen den Menschen, gerade den jüngeren, auch positive Identifikationsmöglichkeiten angeboten werden. Nur wenige Ereignisse der neueren deutschen Geschichte sind dafür so gut geeignet wie die von 1848/49.“
Viel Denkmalsbronze für den Kartätschenprinzen
An den 1849 von einem preußischen Exekutionskommando erschossenen Freiheitskämpfer Max Dortu erinnern gerade einmal eine Handvoll Plätze. Ganz anders das Gedenken an den Kartätschenprinzen. Dem späteren Kaiser Wilhelm I. wurden im Deutschen Reich Tausende Denkmäler gesetzt. Noch heute sind davon mehrere Hundert an exponierter Stelle erhalten, häufig mit der Aufschrift „Wilhelm der Große“ versehen: Reiterstandbilder wie auf der Syburg in Dortmund, am Deutschen Eck in Koblenz und auf dem Kyffhäuser; Standbilder wie in Krefeld und an der Porta Westfalica; Sitzbilder wie im Dortmunder Westfalenpark; Büstendenkmäler wie in Hamburg-Bergedorf; Gedenksteine wie in Bad Segeberg; Denkmäler mit Reliefdarstellungen wie auf dem Bonner Venusberg und mancherorts in Berlin; dazu noch ungezählte Kaiser-Wilhelm-Gedenktürme, Kriegerdenkmäler mit Kaiser-Medaillons, Kaiser-Wilhelm-Eichen.
Sie alle haben zwei Weltkriege überstanden, wurden in der Republik von Weimar und werden von der Bundesrepublik aufwändig gepflegt und erhalten, und selbst die sozialistische DDR ließ die meisten von ihnen stehen. Man fragt sich, warum. Und wundert sich, dass sogar die Sieger des Zweiten Weltkriegs – Amerikaner, Briten, Franzosen und Sowjets, die unter dem deutschen Nationalismus besonders gelitten hatten – nicht auf die Idee kamen, die Denkmäler zu schleifen und die Bronze-Wilhelms einzuschmelzen.
Für Freiheit, Demokratie und Völkerfreundschaft
Nach jahrelangen Kämpfen konnten Volker Schröder und die „Aktion 18. März“ schließlich den Erfolg für sich verbuchen, dass der westliche Vorplatz des Brandenburger Tors umbenannt wurde. Der heutige Name „Platz des 18. März“ war ein Kompromiss, auf die Jahreszahl 1848 wurde verzichtet: Berliner Politiker hatten argumentiert, so könne gleich an zwei Ereignisse erinnert werden, an die Revolution aus dem 19. Jahrhundert und an die erste (und einzige) freie Wahl der DDR-Volkskammer am 18. März 1990. Damit lässt sich leben. Nicht ohne Süffisanz erinnert Volker Schröder daran, dass die Demokraten in der DDR 1990 „den Wahltag 18. März bewusst in Erinnerung an den 18. März 1848 gewählt hatten“.
Erst jüngst hat Schröders Initiative einen alten Plan neu aufgelegt und dem neu gewählten Bundestag vorgeschlagen, über alle Fraktionsgrenzen hinweg folgenden Antrag zu beschließen: „Der Deutsche Bundestag bekennt sich zur besonderen historischen Bedeutung des 18. März 1848. Der Deutsche Bundestag appelliert an den Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, den 18. März zum nationalen Gedenktag mit dem Titel ,Tag der Märzrevolution’ zu erklären.“
Die „Aktion 18. März“ begründet ihren Vorschlag so: „Ein Gedenktag verändert nicht die Welt, aber Symbole haben ihren Wert. Der 18. März steht für Freiheit und Demokratie, Völkerfreundschaft und internationale Solidarität.“