Er weiß so viel, und er ist so klug, und: er macht sich nichts vor. Dennoch: Harald Welzer – geboren 1958 – gestattet sich und so auch uns eine seltene politische Zuversicht, die wahrhaftig bemerkenswert ist in unseren ziemlich trostlosen Zeiten. “Die Utopie des 21. Jahrhunderts hat schon viel, das sie behalten will, und sie hat vor, das erstmals nicht auf dem Weg der Expansion, sondern dem der Reduktion zu sichern. Die konkrete Utopie heißt: Zivilisierung durch weniger.“ Seinem beharrlichen Eigensinn zu Grunde liegt seine berückende Idee des „Futur 2“. Und die geht so: „Ich werde gewesen sein.“ , bzw.: „Wir werden gewesen sein.“ Harald Welzer besteht also neben aller Kritik am inhumanen Wirtschaftssystem auf der bewussten Eigenverantwortlichkeit eines jeden von uns, wenn er darauf verweist, dass auch wir uns selbst, unseren Zeitgenossen, unseren Kindern und Enkelkindern für unser Tun und Lassen Rechenschaft schuldig sein werden. Damit verweist er auf unsere zukünftigen Zeit-und Spielräume, für die jedes Individuum selbst verantwortlich ist. Welzer war ursprünglich als Sozialpsychologe durch seine Forschungen zum deutschen Faschismus bekannt geworden. Besonders seine Analysen von Täter – Persönlichkeiten, die Einsichten in grauenhafte Verdrängungsprozesse der NS-Mörder und ihrer willigen MittäterInnen, sind für die historische Aufarbeitung des Deutschen Massenmords unserer autoritätsfixierten Vorfahren von eminenter Bedeutung. Jetzt, im überbordenden süßen Brei des fortschreitend destruktiven globalen Kapitalismus erhofft Welzer sich vom zivilgesellschaftlichen „Selbst denken“ heute, es möge sich „von der Unterschiedslosigkeit alles Verfügbaren emanzipieren.“ Sein Vorstellungshorizont: „Es ist die Zukunft, die die Kriterien bestimmt, nach der in einer Gegenwart zu handeln ist, und da wir wissen, dass wir diese Zukunft nicht mit Expansion meistern werden, hätten wir schon mal ein Kriterium für das, was wir nicht mehr gebrauchen und aus dem Möglichkeitsraum aussortieren können.“ Dafür zählt Harald Welzer zahlreiche alltagsrelevante Beispiele auf, die wir alle eigentlich zu Genüge kennen: den übervollen Kleiderschrank, und dennoch wieder und wieder neue Klamotten, Lebens-Zeit raubende iPhones, wider alle Vernunft sich den Arten bedrohten Thunfisch genehmigen, jede Menge Fleisch vertilgen, egal jetzt mal ob Bio oder nicht, et cetera. Ich kaufe, also bin ich. Ja, wir wissen Bescheid. Ja, aber wie handeln wir? Als gäbe es kein Morgen? Harald Welzer geht ganz Basis nah davon aus, dass in allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen schon 3-5 % der Menschen in der Lage sind, als ermutigende „Gegenkräfte“ im besten Sinn Anstößiges zu bewirken, Verbrauch bewusst zu reduzieren, achtsam mit den endlichen Ressourcen umzugehen, zumal das Unbehagen vieler Leute gegenüber der bodenlosen Expansion herrschender Industriekonzerne ja mit Händen zu greifen ist, und die präpotente „Experten-Show“ unserer Regierenden gerade in puncto eines wildgewordenen Kasino – Kapitalismus, aber auch ihr gefährlich sachzwängiges Weiter-Laufenlassen im Hinblick auf die Klimazerstörung durch das gewinngeile Motto der Angebotsdroge des „Alles immer“ doch vielen BürgerInnen zunehmend ungeheuerlich erscheint. Welzer nennt seine Gerechtigkeitsstandards „moralische Ökonomie“ und „moralische Phantasie“, die dialektisch wirken und sich in unserer Lebenswelt ganz praktisch ergänzen können, denn „Denkanstöße können Handlungsimpulse auslösen.“ Insofern geht es ihm neben dem „Selbst denken“ auch um das gleichzeitige sich „Selbst Fühlen“, oder wie Alexander Kluge es mal ausdrückte, um „die Zärtlichkeit der Vernunft“. Das heißt also: Spielen wir doch da einfach nicht mehr so blöd mit wie bisher, seien wir zumindest nicht weiter brave Konsumenten, suchen wir keine Ausflüchte, ändern auch wir uns allmählich mal, wir können – in der Tat, Hier und Jetzt, WAS TUN!
Harald Welzer: „Selbst denken“, 6. Auflage, Fischer Taschenbuch, 10 € .
Tja, und dieses Buch sollten sich die Akteure der Berliner Republik auch selbst mal in Ruhe zu Gemüte führen!
Bildquelle: „Wissenschaftsforum Universität Konstanz Gerda-Henkel-Stiftung 2015, Düsseldorf“ by Ziko is licensed under CC BY-SA 4.0
Das Buch ist gut, und ich kann es bedenkenlos empfehlen. Zum „Selbst denken“ fällt mir das folgende Ziat von Oscar Wilde ein. „Auf seine eigene Art zu denken ist nicht selbstsüchtig. Wer nicht auf seine eigene Art denkt, denkt überhaupt nicht.“ Oscar Wilde
Schöne Grüsse aus Osnabrück
Danke, und gut ist auch Oliver Nachtwey:
Die Abstiegsgesellschaft – Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. In der tele-akademie kann man von ihm eine Vorlesung hören!