Das Thema Flucht und Vertreibung ist aus den täglichen Schlagzeilen verschwunden; Vereinbarungen, insbesondere das umstrittene Abkommen mit der Türkei, bremsen den Zuzug von Menschen nach Deutschland. Jenseits der Grenzen jedoch fliehen so viele Menschen wie nie zuvor, vertrieben durch Krieg und Gewalt, Hunger und Verfolgung. Sie verlassen ihre Heimat, geben ihre Existenz auf, hoffen auf vorübergehenden Schutz und die Aussicht auf baldige Rückkehr, oder auf dauerhafte Aufnahme und eine sichere Zukunft anderswo, weltweit 60 Millionen, und es werden mehr.
Die Fluchtursachen sind nicht beseitigt, Wege zur legalen Einwanderung nicht geschaffen, das Schlepperwesen blüht. Über kurz oder lang wird sich Europa mit größeren Wanderungsbewegungen konfrontiert sehen, und es ist höchste Zeit, sich darauf vorzubereiten. Das ist die erste Lektion aus den Jahren 2015 und 2016, als die Bundesregierung anscheinend völlig überrascht von einer vorhersehbaren Entwicklung ebenso gutwillig wie stümperhaft agierte, als die Verwaltungsstrukturen versagten und es allein dem Engagement und Tatendrang der Verantwortlichen und Ehrenamtlichen in den Städten zu danken war, dass die Situation nicht vollends aus dem Ruder lief, dass sich Ablehnung und Anfeindung nicht zu einem Flächenbrand entwickelten, sondern Anstand und Menschlichkeit die Oberhand behielten.
Die zweite Lektion, die jetzt dringend zu lernen ist, folgt unmittelbar daraus. Integration findet in den Kommunen statt. Dort muss das Kanzlerversprechen „Wir schaffen das“ eingelöst werden, und dort muss Vertrauen herrschen, dass die Lasten nicht einfach bei den Städten abgeladen werden und sie auf den Kosten der gesamtgesellschaftlichen Aufgabe sitzenbleiben. Ohne dieses Vertrauen wird noch so viel guter Wille nicht ein weiteres Mal genügen, um den Kraftakt zu bewältigen. Und dieser Kraftakt dauert an. Die Anerkennung dafür darf sich nicht in Sonntagsreden erschöpfen. Das verdiente Lob verliert an Glaubwürdigkeit, wenn zugleich ums Geld gefeilscht wird.
Erst nach langem Gezerre billigt der Bund den Kommunen weitere Mittel zu, die werden über die Länder nach unterschiedlichen Regeln verteilt, so dass – ähnlich wie bei der Verteilung von Flüchtlingen nach dem Königsteiner Schlüssel und bei der Einrichtung von Erstaufnahmestellen – ein Gefühl von Ungerechtigkeit bleibt und die Kämmerer die Enden nicht mehr zusammenbekommen. In der Auseinandersetzung mit dem Land erwirkten die nordrhein-westfälischen Städte zwar eine Verbesserung bei der Kostenabrechnung für Geflüchtete, bei den Kosten für Geduldete aber, deren Zahl im fortschreitenden Verfahren wächst, fühlen sie sich über den Tisch gezogen. Erfolgt nach der Ablehnung des Asylantrags nicht binnen drei Monaten die Abschiebung, tragen die Kommunen die Kosten. Das soll den Druck auf rasche Abschiebung erhöhen, aber drei Monate sind in vielen Fällen unrealistisch, nicht allein, weil die zuständigen kommunalen Ausländerbehörden überfordert sind, sondern weil rechtliche oder humanitäre Hinderungsgründe bestehen.
Das sauerländische Altena ist der erste Preisträger des von der Bundeskanzlerin neu ausgelobten Integrationspreises. Der würdigt vorbildliche und nachahmenswerte Anstrengungen der 17000-Einwohner-Stadt, die so oder ähnlich auch in anderen Kommunen unternommen wurden. Unterbringung möglichst nicht in Containern oder Turnhallen, sondern in normalen Wohnungen, „Kümmerer“, die anderswo „Paten“ genannt werden und den Neuankömmlingen bei der Bewältigung der Alltagshürden helfen, und Deutschunterricht von Anfang an gehören zum ausgezeichneten Konzept.
Nicht nur in Altena, wo die älteste Jugendherberge Deutschlands steht und Willkommenskultur eingeübt ist, sondern auch in vielen anderen Städten hat sich seit den Einwanderungsdebatten der 1990er Jahre die Erkenntnis durchgesetzt, dass Integration keine Einbahnstraße ist. Das gegenseitige Geben und Nehmen wird praktiziert, das Aufeinanderzugehen, das Miteinandergestalten. Den Gedanken, dass Neubürger nicht nur Last, sondern auch Bereicherung sind, hat Altena offensiv kundgetan, als die Stadt sich bereiterklärte, freiwillig hundert mehr Flüchtlinge aufzunehmen, als ihr offiziell zugewiesen wurden. Ein Merkmal, das die Preisträgerin dann doch hervorhob aus der Masse der vielen nicht minder engagierten Städte.
Integration sei eine langfristige Aufgabe und erfordere Mühe, sagte Angela Merkel (CDU), als sie ihrem Parteifreund, dem Altenaer Bürgermeister Andreas Hollstein, in Berlin den Preis überreichte. Auch sie betonte die Chancen der Zuwanderung, die Deutschland stärken könne, wenn die Integration gelinge. Dies wiederum gelinge am besten, wenn sich Menschen aufeinander einlassen. Enttäuschungen und Rückschläge aber bleiben nicht aus, und als kürzlich in Schwelm eine Ehrenamtliche bestohlen wurde, brachen sich Wut und Verbitterung in dem pauschalen Vorwurf der Undankbarkeit Bahn. Der Kritik folgte sogleich eine distanzierende und differenzierende Erwiderung anderer Ehrenamtlicher, und doch zeigt sie, dass Kräfte schwinden, Geduld endlich ist und Ehrenamtliche sich der Gefahr der eigenen Überforderung aussetzen. Auch hier ist es mit gutem Zureden und symbolischem Schulterklopfen nicht getan.
Der Dortmunder Oberbürgermeister Ullrich Sierau (SPD) erneuerte kürzlich seine Kritik, dass sich viele Haupt- und Ehrenamtliche von der Bundesregierung und auch den Landesregierungen alleingelassen fühlten. Schon im vorigen Jahr hatte er im Interview mit dem „Blog der Republik“ der Bundesregierung schwere Versäumnisse vorgeworfen. Sie sei „nicht ansatzweise in der Lage“ gewesen, ihr Versprechen zu halten, sagte Sierau. Die Kanzlerin und der Innenminister „tauchen weg, wenn es Probleme gibt und lassen uns damit allein.“ Heute pflichten viele Bürgermeister ihrem Dortmunder Amtskollegen bei, doch die Haltung der Bundeskanzlerin, bis zur Wahl im September einfach gar nichts zu unternehmen, zeigt, dass die Lektionen nicht gelernt sind.
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