Der Schriftsteller Rolf Hochhuth sorgte einst mit seiner verbalen Attacke auf den damaligen CDU-Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Hans Filbinger, für Aufsehen. „Furchtbare Juristen“ empörte sich Hochhuth, als er ein Interview des Hamburger Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ mit dem Stuttgarter Regierungschef las, in dem der frühere Marine-Richter die so genannte Rechtsprechung in der Nazi-Zeit und deren Gültigkeit in der Bundesrepublik mit den Worten verteidigt hatte: „Was damals rechtens war, kann heute nicht Unrecht sein“. Dieses Beharren Filbingers auf der Rechtmäßigkeit der unmenschlichen Justiz in der Hitler-Zeit war kein Einzelfall, sondern spiegelte die Haltung vieler deutscher Juristen im Dritten Reich und vor allem auch danach wieder. Das Buch ist auch eine Reaktion des Autors auf die nie wirklich eingeleitete Strafverfolgung von Richtern am NS-„Volksgerichtshof“.
Ausgerechnet Filbinger, lange Zeit von einigen Konservativen als Widerstandskämpfer gefeiert, beantragte 1937 die NSDAP-Mitgliedschaft. Noch am 29. Mai 1945, drei Wochen nach der Kapitulation, verurteilte Filbinger einen Soldaten wegen Gehorsamsverweigerung zu sechs Monaten Gefängnis. Begründung: „Hohes Maß an Gesinnungsverfall.“Der Soldat hatte eine Woche vor Kriegsende die Nazi-Embleme von seiner Uniform entfernt. Filbinger hatte vorher auch Todesurteile verhängt bzw. daran mitgewirkt, mindestens eines wurde auch vollstreckt.
Der Jurist Ingo Müller, emeritierter Jura-Professor, der in Hamburg gelehrt hat und heute in Berlin lebt, hat sich mit diesem unrühmlichen Kapitel deutscher Justiz in der Nazi-Zeit beschäftigt. In seinem Buch, das erstmals 1987 erschien und 2014 in überarbeiteter Form wieder aufgelegt wurde, beschreibt er, wie es vielen Juristen gelungen ist, ihre braune Karriere zu verschleiern und ihre Laufbahn in der Bundesrepublik unbeschwert fortzusetzen, als Staatsdiener mit Pensionsanspruch. So blieben, wie Müller es ausdrückt, „ unter den Verbrechen des Nazi-Regimes jene der deutschen Justiz weitgehend unbeobachtet und ungesühnt“. Eine „beklemmende Tatsache“.
Aus heutiger Sicht eigentlich unvorstellbar, zumal es Entnazifizierungs-Maßnahmen gab, Protokolle, Papiere, die die Betroffenen auszufüllen hatten, die nicht wenigen zum beruflichen Verhängnis wurden, weil man sie entließ, Beamte zumal, kleine Lehrer, die sich als Bauernknechte durchschlagen mussten, aber vieles, vor allem bei den Juristen, blieb jahrelang unerkannt. Dabei lag es auf der Hand, dass viele Juristen, die mit der Gründung der Bundesrepublik nahezu problemlos in den Staatsdienst gelangten, zuvor im Dienst der Nazis gestanden und Recht gesprochen hatten, Recht der Nazis eben, das man hinnehmen musste, weil es keinen Widerspruch duldete. Erst Müllers akribische Daten-Sammlung, für die er den Carl-von-Ossietzky-Preis für Zeitgeschichte und Politik der Stadt Oldenburg erhielt, führte zur Demaskierung vieler Täter im Juristen-Gewand.
Ausdruck der Unbelehrbarkeit
Zurück zu Hochhuth und Filbinger. Hochhuth hatte den CDU-Politiker und einstigen Marine-Richter wegen einiger seiner Urteile aus der Kriegs- und Nachkriegszeit einen „furchtbaren Juristen“ genannt. Filbinger stellte Strafantrag. Und während der öffentlichen Verhandlung fiel Filbingers Bemerkung, es könne doch heute nicht Unrecht sein, was früher rechtens gewesen sei. Dieser Ausdruck der Unbelehrbarkeit zeigte im Grunde erst das ganze Ausmaß, die ganze „Furchtbarkeit“ jenes Juristen und vieler Berufskollegen seiner Generation, war doch der einstige Marinerichter kein Einzelfall. Im Übrigen wurde Hochhuth freigesprochen, Filbinger musste zurücktreten, eingesehen hat er sein Fehlverhaltend nicht.
Müller zitiert in diesem Zusammenhang Kurt Tucholsky, selber Jurist, der in seiner „Weltbühne“ 1927 seine Erfahrungen mit der Justiz so zusammengefasst hatte. „Die Kaste, aus der sich der deutsche Richterbund rekrutiert, repräsentiert nicht dasjenige Deutschland, das etwa von Goethe über Beethoven bis Hauptmann jene Elemente enthält, um derentwillen wir das Land lieben.“ Justiz, richtig verstanden, müsse nicht den Klang eines Peitschenhiebes haben, Justiz stehe auch für Recht und Gerechtigkeit.
Die Zeitenwende bedeutete keineswegs den Bruch von Karrieren, wie der Fall von Hans Puvogel zeigt. Der Autor des juristischen Plädoyers für die „Ausscheidung der Minderwertigen durch Tötung“ wurde 1976 Justizminister in Niedersachsen. Als ein Richter die anstössige Doktorarbeit bekannt machte, leitete man gegen den Richter ein Dienststrafverfahren ein, das mit einer Maßregelung endete. Begründung: Mit der Veröffentlichung habe der Richter die seinem Dienstherrn-Puvogel- nötige Achtung verweigert.
Müller beschreibt eine Fülle von Fällen, von Urteilen im Krieg, von Lebensläufen und Aufstiegen danach. So war der frühere Vorsitzende des deutschen Sondergerichts in Luxemburg, Adolf Raderschall, in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden, die Staatsanwälte Leon Drach und Josef Wienecke erhielten 15 bzw. 10 Jahre Zuchthaus. Wienecke, in Abwesenheit verurteilt, weil er einen Urlaub auf Ehrenwort dazu benutzt hatte, sich in die Bundesrepublik abzusetzen. Wienecke wurde 1953 Staatsanwalt in Koblenz und kurz darauf zum Ersten Staatsanwalt befördert, Leon Drach amtierte schnell als Oberstaatsanwalt, Raderschall erhielt eine Amtsrichterstelle.
Verantwortlich für den Juristennachwuchs
Ein anderer, Dr. Otto Bauknecht, während der deutschen Besatzungszeit in Luxemburg ebenfalls Richter am Sondergericht, hatte vier Jahre Gefängnisstrafe bekommen. Auch er wurde „unter Anwendung von Menschlichkeitsmaßstäben, die ihm bei seiner eigenen Tätigkeit völlig fremd gewesen waren“, begnadigt und in die Bundesrepublik abgeschoben. 1956 stieg Bauknecht in Bad Kreuznacht zum Landgerichtspräsidenten auf. Und trotz seiner Verurteilung in Luxemburg wurde er Präsident des Justizprüfungsamtes in Rheinland-Pfalz und damit „verantwortlich für die Ausbildung des gesamten Juristennachwuchses“. Welch eine Verhöhnung des Rechts!
Ein anderes Beispiel. Der in der Tschechoslowakei zu lebenslanger Haft verurteilte „Blutrichter von Prag“, Dr. Kurt Bellmann, dessen Unterschrift nachweislich unter 110 Todesurteilen stand, avancierte nach seiner Abschiebung in den Westen zum Landgerichtsdirektor von Hannover.
Oder: 1948 war der ehemalige Staatsanwalt Dr. Dr. Erich Anger, der als Ankläger beim Landgericht in Leipzig mehrfach mit Erfolg die Todesstrafe gefordert hatte, von der Großen Strafkammer des Landgerichts Dresden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Nach Verbüßung der Strafe wurde Anger Erster Staatsanwalt in Essen.
Fortschreitende Entartung des Rechssystems
Die Nachkriegsjustiz, so schreibt Müller an anderer Stelle, hatte 5288 NS-Gewaltverbrecher verurteilt, Vertreter des eigenen Berufsstandes seien aber nicht darunter gewesen. Trotz „fortschreitender Entartung des Rechtssystems“ unter den Nazis und Prozessen die „bar jeder Grundbestandteile der Rechtlichkeit“ gewesen seien, so der Oberste Gerichtshof der britischen Zone, der von „nazistischer Justizlenkung“ gesprochen hatte und von Gerichtsurteilen, „die in Wirklichkeit Akte administrativer Vernichtung“ gewesen seien.
Der frühere Referatsleiter im Reichspropagandaministerium, Dr. jur. Froehlich, der selber 1943 einen Mann denunzierte hatte, der dann vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt worden war, wurde 1964 vom Landgericht Hamburg freigesprochen. Begründung: Der Angeklagte Froehlich könne als „Jurist und überzeugter Nationalsozialist aus seiner damaligen Sicht“ heraus der Ansicht gewesen sein, ein „Gericht des Dritten Reichs setze kein Unrecht und begehe weder Rechtsbeugung noch Totschlag.“
Immer wieder, so fand Müller heraus, wurde Richtern zu Gute gehalten, dass sie „überzeugte, ja fanatische Nationalsozialisten waren“ und daher möglicherweise rechtsblind, basierend auf politischer Verblendung“. Und somit wurde auf Freispruch erkannt. Nachzulesen: Seite 361 f.
Jüdische und sozialistische Juristen ausgemerzt
Man könnte mit Beispielen fortfahren, das Buch ist eine Lektüre, die den Leser erschüttert. Während 12 Jahren, so urteilt Müller, verschwand der Rechtsgedanke aus Deutschland, weil die jüdischen, sozialistischen und demokratischen Juristen ausgemerzt-das beliebteste Wort juristischer Abhandlungen dieser Zeit- worden waren und damit immerhin ein Fünftel eines ganzen Berufsstandes und zwar jenes Teils, gegen den sich die Attacken Hitlers vor allem gerichtet hatten. Übriggeblieben sei ein „verstümmeltes, geradezu pervertiertes Rechtsempfinden“.
Der Ankläger des Frankfurter Auschwitz-Prozesses, Fritz Bauer, dem in erster Linie der Versuch der Aufklärung und der Anklage der juristischen Täter zu verdanken ist, hatte damals- der Prozess fand von 1963 bis 1965 statt- geglaubt, „Deutschland würde aufatmen, und die gesamte Welt, und die Hinterbliebenen derer, die in Auschwitz gefallen sind, und die Luft würde gereinigt, wenn endlich einmal ein menschliches Wort fiele.“ Es ist damals nicht gefallen, so Müller, und auch in den Jahren danach nicht.
Der letzte Überlebende der Staatsanwälte des Auschwitz-Prozesses, Gerhard Wiese, sagte kürzlich bei der Sendung mit Günther Jauch anlässlich des 70. Jahrestages der Befreiung des KZ Auschwitz: „Mir ist keiner in Erinnerung, der gesagt hätte: Es tut mir Leid“.
Ingo Müller: Furchtbare Juristen. Die unbewältigte Vergangenheit der deutschen Justiz. Edition Tiamat. 450 Seiten, 22 Euro. Berlin 2014.
Anmerkung: Zu diesem Beitrag erreichte den Autor über die Redaktion ein Schreiben der Tochter von Hans Filbinger, Susanna Filbinger-Riggert, den wir hier in der Rubrik Dokumente gerne veröffentlichen.
Zum Schutze derartiger Verbrecher wird heute auch weiterhin die Strafverolgung von Richtern usw, durch die unsägliche richterliche Unabhängigkeit vereitelt.
Ich habe eine private Recherche zum Thema Rechtsbeugung durchgeführt. Ich war durch ein Familiengerichtsverfahren als Vater betroffen,w eil mir ohne Gerichtsverhandlung das Sorgerecht entzogen wurde und ich 4 Jahre brauchte um es wieder zu bekommen. Und ich habe so gut wie nichts gefunden in der BRD Justiz Literatur, also keine Verurteilungen von rechtsbeugenden Richtern. Als ich dann die chronologisch zu den „Karrieren“ ehemaliger Blut und Boden Nazi Juristen kam, deren Bilder noch heute in den Gerichtsäälen hängen, wusste ich was ich von der bundesdeutschen Justiz zu halten hatte. Die machten weiter Karriere nach Beendigung ihrer Nazikarriere als wäre nichts geschehen.