Bei den nächsten Kommunalwahlen 2020 in nordrhein-westfälischen Städten und Kreisen haben Kandidaten kleinerer Parteien bessere Erfolgsaussichten. Der Verfassungsgerichtshof in Münster hat die neue 2,5-Prozent-Sperrklausel für verfassungswidrig erklärt. Die im vorigen Jahr in die Landesverfassung aufgenommene Regelung verstoße gegen den Grundsatz der Wahlgleichheit, heißt es in der Urteilsbegründung. SPD, CDU und Grüne hatten die Sperrklausel eingeführt, um einer Zersplitterung der Räte und Kreistage entgegenzuwirken.
Nach der mündlichen Verhandlung in Münster hatte sich der Tenor der Entscheidung, die von mehreren kleinen Parteien angestrengt worden war, bereits abgezeichnet. In der Begründung legt das Gericht nun ausführlich dar, dass der Landtag als Gesetzgeber es sich zu leicht gemacht habe. Eine Einschränkung der Wahlrechtsgleichheit müsse vom Gesetzgeber handfest und nachweisbar begründet werden. Dies sei dem Antragsgegner nicht gelungen. Die Kläger frohlocken.
Linke und Tierschutzpartei, NPD und ÖDP, Piraten und andere befürchteten sinkende Chancen, Bewerber in einen Rat zu entsenden. Sie führten gegen die Sperrklausel die Beschneidung von Mitwirkungsmöglichkeiten und den Abbau von Demokratie ins Feld. Eine Stärkung der Demokratie hatte hingegen der Gesetzgeber angestrebt, der die Funktionsfähigkeit der Kreistage und Räte sicherstellen wollte. Seit 2014 sind Räte mit zehn oder mehr Gruppierungen keine Seltenheit mehr. Die Entscheidungsfindung sei erheblich beeinträchtigt, der Arbeitsaufwand deutlich gestiegen, die kommunale Selbstverwaltung in Gefahr.
Die Landtagsfraktion der SPD hatte bei Professor Dr. Jörg Bogumil von der Ruhr-Universität Bochum ein umfangreiches Gutachten in Auftrag gegeben, das die Wiedereinführung einer Sperrklausel dringend empfahl. Bis 1999 hatte bei NRW-Kommunalwahlen noch die Fünfprozent-Hürde gegolten. Sie war nach der Kommunalwahlreform mit der Direktwahl der Landräte und Bürgermeister gekippt worden. Danach veränderten sich die Gemeinderäte, insbesondere in Großstädten zogen viele Bewerber von Kleinparteien und Wählervereinigungen ein, die sich als Einzelkämpfer durchschlagen.
Ratssitzungen seien seither nicht selten Marathonveranstaltungen, die den Aufwand der ehrenamtlichen Ratsvertreter über Gebühr steigerten, argumentierte das Gutachten etwa. Bogumil und seine Mitarbeiter hatten eine Befragung der Bürgermeister und Landräte zwischen Rhein und Weser vorgenommen und ein mit 90 bzw. 100 Prozent klares Votum für die Sperrklausel erhalten. Die Folgen der Zersplitterung wurden ganz überwiegend als negativ beschrieben, als Beeinträchtigung und Erschwernis der Gremienarbeit. Doch das reicht nach Auffassung des Gerichts als Begründung nicht aus.
Die Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs, Ricarda Brandts, ließ in der Urteilsbegründung kein gutes Haar an dem Gesetzgeber. Schwerfälligkeit in der Meinungsbildung dürfe nicht mit Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit gleichgesetzt werden, heißt es da etwa. Und: „Demokratie setzt das Aufeinandertreffen verschiedener Positionen und das Finden von Kompromissen voraus.“ Es sei „nicht Aufgabe der Wahlgesetzgebung, die Bandbreite des politischen Meinungsspektrums zu reduzieren“.
Alles in allem fehlen dem Gericht die Belege für die vom Gesetzgeber vorgetragenen Behauptungen. Das gilt nicht nur für die Funktionsunfähigkeit, sondern auch für das stärkere Gewicht, das Einzelvertretern oder kleinen Gruppen mit der Rolle als „Zünglein an der Waage“ zukommt. Nicht verfangen konnten beim Gericht auch die Argumente, die die Besonderheiten der nordrhein-westfälischen Kommunalpolitik im Vergleich zu Süddeutschland hervorhoben, etwa die geringere Machtfülle der Bürgermeister, die Allzuständigkeit der Räte, auch die vergleichsweise niedrigen Aufwandsentschädigungen der Ratsvertreter und Kreistagsabgeordneten in NRW.
Selbst das Anliegen, die erheblichen Unterschiede bei den „faktischen“ Sperrklauseln einzuebnen, werteten die Richter als nicht schwerwiegend genug. Je nach Größe eines Rates und der Wahlbeteiligung genügen zur Erreichung eines Ratsmandats in einem Fall 0,6 Prozent der Stimmen, in einem anderen werden mehr als zwei Prozent benötigt. Der Grundsatz der gleichen Wahl verlange, dass in einem Wahlgebiet jedem Bewerber die gleichen Chancen eingeräumt werden. Dies wahlgebietsübergreifend vereinheitlichen zu wollen, sei ebenfalls kein „zwingender Grund“.
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