Es ist Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo zu verdanken, dass er jetzt eine Debatte über die Grünen angestoßen hat, die längst überfällig war: In einem höchst lesenswerten Leitartikel (DIE ZEIT, Nr.40 / 2016) beschäftigt er sich mit dem politischen Rigorismus der Partei, gräbt nach ideologischen Wurzeln und erteilt „ grünem Allmachtsdenken“ eine Abfuhr. So deutlich hat man das noch nicht gelesen.
Für den Journalisten aus Hamburg gibt es einen roten Faden, der den kommunistischen italienischen Theoretiker Antonio Gramsci, die heutigen Grünen, sogar Kanzlerin Angela Merkel und die AfD miteinander verbindet. Sobald politische Parteien an die Macht wollen, so habe der Ideologe Antonio Gramsci einst in den „Gefängnisheften“ geschrieben, müsse sie „den Kampf um die Köpfe gewinnen“ ; ihre Weltanschauung habe sich in der Presse , in den Schulen und besonders bei den Intellektuellen durchzusetzen .
Kulturelle Hegemonie
Der Linkssozialist Antonio Gramsci, ehemaliger Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens und vom faschistischen System Mussolinis später zu vielen Jahren Gefängnis verurteilt, hat besonders die französische und deutsche Linke beflügelt. Seine These von der „kulturellen Hegemonie“ faszinierte lange eine intellektuelle Avantgarde, die sich während des Aufbruchs der Sechziger Jahre einredete, dass man über eine geistige Inbesitznahme der Köpfe politische Macht gewinnen könne. Der politische Kampf gegen den Springer-Konzern, die BILD-Zeitung und die Restauration der Nach-Adenauer-Zeit ist ohne dieses Dogma kaum zu begreifen. Der damalige Rigorismus etablierte sich bei einer radikalen Linken; aber zahlreiche Anhänger Gramscis gab es später auch bei den Grünen, denen es unzweideutig gelang , durch unkonventionelles Verhalten, im Aufbegehren gegen das staatliche Establishment den Zeitgeist der deutschen Republik zu bestimmen. Die Chiffre Gramsci war sehr populär.
War es nur Zufall, dass sich in den Reihen der Grünen viele gescheiterte ehemalige Linksextremisten fanden? Die Liste reicht von Rudi Dutschke über die linksextremen Hamburger K-Gruppen bis zu Antje Vollmer, Jürgen Trittin oder Winfried Kretschmann, die nach einem rigorosen Anpassungsprozess bald die Schalthebel der Macht besetzten. Ob sich die einst streitlustige Partei dabei in einen belanglosen Machterhaltungsverein verwandelte, ist eine andere Frage. Geblieben sind ein moralischer Anspruch, die Politik des moralischen Zeigefingers und eine Neigung, für fast alle öffentlichen und privaten Bereiche Vorgaben für das gute Leben und die individuelle Lebensgestaltung zu machen.
Politische Besserwisser
Für Giovannni di Lorenzo ist die Sache klar: „Ihre Anliegen haben das Land politisch und gesellschaftlich durchdrungen. Sie fanden, als hätte Gramsci die Fäden gezogen, besonders viele Anhänger in den akademischen Milieus, bei Studenten, Lehrern, in den Medien, bei Kulturschaffenden aller Art, was ihre kulturelle Dominanz erklärt“, schreibt er und bilanziert, dass gerade die aktuelle Anpassungsfähigkeit der Grünen signalisiere, dass ihre jahrzehntelange „kulturelle Hegemonie“ zu Ende gehe. Etwas anderes trete jetzt an ihre Stelle, das paradoxerweise von den Grünen indirekt provoziert worden sei. Der Rigorismus grüner Programmatik, ihre allgegenwärtige Gesinnungsethik und der Versuch, sich als politischen Besserwisser und „ grüne Allmacht“ aufzuspielen, habe zu einer Gegenbewegung geführt, die unvorstellbar schien: Der Vormarsch populistischer und rechter Bewegungen, wie er sich in Deutschland besonders bei den letzten Wahlen abgezeichnet habe. Die Grünen – so folgert di Lorenzo – seien mitschuldig am Aufstieg der AfD .
Tatsächlich ist zu fragen, ob die Überhöhung der „political correctness“, der Glaube an die Erziehbarkeit des Menschen oder das Moralisieren in ausgewählten Medien, besonders in traditionell grünen Schichten, nicht zum Irrglauben führten, dass man von sich auf andere schließen könne, ja, dass Menschen mit Unverständnis konfrontiert werden müssen, die das Gerede über Veggie-Day , Dosenpfand, Gut und Böse, Nachhaltigkeit oder das Elend in der Welt nur noch mit Ratlosigkeit oder Wut zur Kenntnis nehmen.
Von ideologischen Skrupeln befreit
Wer gibt den einstigen Öko-Pazifisten, die sich in der politischen Wirklichkeit eingerichtet haben und wie alle übrige Parteien um Einfluss und Pfründe streiten, das Recht, zu Allem und Jedem den Zeigefinger zu heben? Wer hat sie eigentlich dazu befugt, im Namen einer „kulturellen Hegemonie“ zu fast sämtlichen Fragen des privaten und öffentlichen Lebens einen Ratschlag zu geben? Mit welcher Legitimität hantiert die kleine, von ideologischen Skrupeln weitgehend befreite Partei, sobald sie ihre Gesinnungsethik zum Non plus Ultra des Lebens erklärt? Das fragen sich inzwischen viele Bürgerinnen und Bürger, nicht nur die verstockten Anhänger der auftrumpfenden AfD.
In ihrer Replik auf den Chefredakteur( DIE ZEIT, Nr.41, 2016) hat die im Medienpalaver allgegenwärtige Renate Künast jede Selbstkritik ausgespart. Innehalten, nachdenken und danach fragen, woher der Popularitätsverlust der Grünen stammen könnte, wird vermieden. Dabei hätte man sich gewünscht, dass die Berliner Ober-Grüne auf die Behauptung des ZEIT-Herausgebers, wonach keine „unangefochtene Hegemonie gut für das Land sei, auch keine grüne“ eine klare Antwort gefunden hätte. Stattdessen gibt es Allgemeinplätze und die Behauptung, dass der Anstieg der AfD gar nichts mit grüner Correctness zu tun haben könne.
Angst vor sozialem Abstieg
War es nicht vorhersehbar, dass der Daueranspruch der Grünen auf „kulturelle Hegemonie“ eines Tages eine politische Gegenreaktion hervorrufen würde? Natürlich haben die Ankunft der Flüchtlinge im vergangenen Jahr, die Serie zahlloser Terrorakte, die Globalisierung und Modernisierung, sowie die Angst vor sozialem Abstieg wie ein Katalysator gewirkt, der den Rechtspopulisten Wähler der Linken, der Grünen, der SPD und der CDU in die Scheuer trieb. Aber Künasts flüchtiger Blick in die europäische Nachbarschaft, wo sich gleichfalls nationale und populistische Kräfte regen, reicht als Antwort nicht aus. Auch nicht ihr banaler, fast nichtssagender Hinweis, wonach Deutschland 1945 zwar ein demokratisches Land wurde, aber einige alte Überzeugungen leider virulent geblieben seien.
Da ist Winfried Kretschmann deutlicher. „Wir sind keine Heiligen und werden es auch dann nicht, wenn man uns dazu machen will. Wir sollten daher das Moralisieren lassen“, schreibt er in der jüngsten Ausgabe der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ und plädiert dafür, dass jeder nach seiner Fasson leben müsse, ohne gleich befürchten zu müssen, dass traditionelle Formen des Zusammenlebens, wie Ehe und Familie, abgewertet werden. Für Kretschmann bleibt die klassische Ehe die bevorzugte Lebensform – und das sei gut so.
Sehnsucht nach alter Ordnung
„Bei vielen wächst sich das Gefühl der Überforderung zum Gefühl des Kontrollverlusts aus. Sie sehnen sich nach der alten Ordnung und der Übersichtlichkeit vergangener Zeiten. Es entwickelt sich ein neuer Zeitgeist, der die Errungenschaften der offenen und toleranten Gesellschaft infrage stellt.“ Die Frage, ob sich Deutschland der Modernisierung oder einem politischen Rollback widmen will, siedelt Kretschmann konsequent zwischen Grünen und Rechtspopulisten an.
Keine Zeit mehr für grüne Allmacht und kulturelle Hegemonie? „Auf der einen Seite erleben wir eine übersteigerte politische Korrektheit“, folgert der grüne Realpolitiker, „auf der anderen Seite das krasse Gegenteil: einen Verbalradikalismus und eine Verrohung der Sprache. Wir müssen eine neue Tonlage finden, getragen von Klarheit und Respekt.“ Von Besserwissen keine Spur, verständlich und klar in der Sache – bleibt zu hoffen, dass „die mit dem Zeigefinger“ endlich nachdenklich werden. Der Mensch sei „aus krummem Holz geschnitzt“, so wusste schon der große Immanuel Kant. Ja, es ist wahr- wir sind keine Heiligen und werden es auch dann nicht, wenn man uns dazu machen will. Der politische Rechtsruck in Polen, Ungarn, Frankreich und Österreich lässt leider grüßen!
Kretschmanns Kritik blieb nicht unwidersprochen, die Grüne Jugend hält gegen seine These. Ende offen.
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