Wir vergessen heute in der Zeit viel zu vieler großer Koalitionen leicht die Kämpfe der Vergangenheit, ich meine die 60er und die 70er Jahre. Die Periode der Nachkriegszeit, als ausgerechnet einige der wenigen herausragenden Persönlichkeiten der Bundesrepublik, die in aller Welt hoch geachtet waren, die Nobelpreise errangen, Willy Brandt und Heinrich Böll, von Teilen dieser deutschen Gesellschaft, von der Springer-Presse zumal und dem erzkonservativen Flügel der Adenauer-CDU, in übler Weise diffamiert wurden. Noch heute wundert es mich, dass Böll nicht ausgewandert und Brandt nicht einfach die Brocken hingeschmissen hat. Es ist das Verdienst meines langjährigen journalistischen Kollegen Norbert Bicher, einst Parlamentskorrespondent der Westfälischen Rundschau und später Sprecher des Fraktionschefs der SPD und Verteidigungsministers, Dr. Peter Struck, an dieses leidige Kapitel der Nachkriegszeit zu erinnern in seinem Buch: „Mut und Melancholie. Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD. Eine Beziehung in Briefen, Texten. Erinnerungen.“
Der Feuilleton-Kollege des „Kölner Stadtanzeigers“ findet es in seiner Rezension „irritierend, dass Autor Norbert Bicher,… sich darüber heute noch ereifern kann, als stünden wir weiterhin mitten im Debatten-Streit“. Darüber allerdings kann ich mich nur wundern. Denn dies war der Ausgangspunkt des feinen Buches. Mich hat das Thema vom ersten Moment an fasziniert, weil ich die 60er und 70er Jahre in guter- oder wenn Sie wollen schlechter- Erinnerung habe. Zum Beispiel das Flugblatt, das uns damals in den 60er Jahren ins Haus flatterte, ein übles Machwerk der Adenauer-CDU, um Brandt bloßzustellen. „Willy Brandt, alias Herbert Frahm,“ hieß es, weil Brandt ein uneheliches Kind war, ein Grund, in gewissen bürgerlichen Kreisen auf diese Leute herabzublicken und mit dem Finger auf sie zu zeigen. Brandt hat dieser Versuch, dem ja andere folgten, schwer getroffen. Dennoch machte er weiter, er ließ sich nicht verbiegen.
Brandt musste sich gegen Angriffe wehren, weil er das Land in der Nazi-Zeit verlassen hatte, um sein Leben zu retten. Die Nazi-Jäger waren ihm schon auf der Spur. Man muss sich das heute immer mal wieder ins Gedächtnis rufen. Willy Brandt, ein Sozialdemokrat, flüchtet nach Skandinavien, um dem NS-Regime zu entkommen und das wird ihm später zum Vorwurf gemacht. Ich höre heute noch den CSU-Politiker Richard Stücklen, einst Bundesminister und Vizepräsident des Bundestages, wie er Fragen an den SPD-Politiker stellte: „Herr Brandt, wo waren Sie damals?“ Als sei es ein Verbrechen gewesen, die Flucht vor den Nazi-Verbrechern zu ergreifen. Emigrant als Schimpfwort. Übrigens: 80 Verleumdungsklagen hat Willy Brandt angestrengt gegen jene, die ihn wegen seiner Zeit in Norwegen diffamieren wollten. Da fällt mir ein, dass der Gründer der WAZ, Erich Brost, ein Sozialdemokrat aus Danzig, aus Deutschland nach England floh, weil die Nazis ihn verfolgten.
Adenauers Kanzleramtschef Globke
Viele andere blieben im Land, klar, auch das ist nicht zu verurteilen. Aber warum hat man in der jungen Bundesrepublik nicht nach den Nazis geforscht, die nach dem Krieg schnell wieder in Amt und Würden waren? Einer wie Globke durfte Adenauers Kanzleramtschef werden, um nur den Fall zu nennen. Das beschwerte die Gesellschaft genau so wenig wie die Tatsache, dass der eine oder andere, der Mitglied der NSDAP war, später Minister wurde, Ministerpräsident, Bundeskanzler. Brandt hat sich, als er die SPD als Junior-Partner in die große Koalition unter Kiesingers CDU geführt hatte, einmal über „diesen alten Nazi“ geärgert, aber ansonsten regierte man ordentlich miteinander und zum Wohle des Volkes.
Als Bundeskanzler suchte Willy Brandt die Aussöhnung mit dem Osten. Die Ostverträge waren sein und das Werk seines engsten Vertrauten Egon Bahr. Wandel durch Annäherung, so die Philosophie seiner Politik. Und was musste er sich alles anhören?! Er wurde als Verräter deutscher Interessen beschimpft wegen der Verträge mit Polen. Sein Kniefall im Warschauer Ghetto wurde in gewissen Kreisen belächelt, weltweit erwarb er, der eine weiße und keine braune Weste hatte, durch seine demütige Haltung viel Ehre für ein neues Deutschland, Anerkennung, Respekt. Aber zu Hause musste er sich anhören, dass er den deutschen Osten verkaufe. Dabei erhaielt er 1971 den Friedensnobelpreis und damit wurde er für seine Politik des Friedens und Ausgleichs mit den Nachbarn gewürdigt, was gleichzeitig auch dem Land zugute kam, das Brandt als Kanzler regierte.
Attacken kaum zu ertragen
Mut und Melancholie nennt Bicher sein Buch. Es steht für den Mut des Willy Brandt, den Hoffnungsträger vieler junger Deutschen damals, den vor allem die Angriffe der Springer-Presse, des Boulevard, schwer trafen. Deshalb der zweite Titel Melancholie, in die Brandt gelegentlich fiel, weil er die Attacken kaum ertragen konnte. Bei der Vorstellung des Buchs wies Bicher daraufhin, dass der Boulevard seine Arbeit ja nicht beendet habe, sondern weitermache, nicht nur bei Springers Bild, sondern auch in manchen anderen Zeitungen der Republik, wo inzwischen einstige Bild-Leute als Chefredakteure arbeiten.
Willy Brandt und Heinrich Böll, Brandt ist 1913 geboren, Böll vier Jahre später. Brandt erhielt den Nobelpreis 1971, Böll den Literaturnobelpreis 1972. Böll war kein SPD-Mitglied, er stand Brandt aber sehr nahe und schätzte dessen Bestreben um Aussöhnung und Ausgleich, dessen Politik der Reformen, dessen Bemühen, mehr Demokratie zu wagen. Einmal trat er auch auf einem SPD-Parteitag wohl in Dortmund auf und hielt eine Rede. Böll erging es ähnlich wie Brandt. Man verunglimpfte ihn-man ist die Springer-Presse, Bild vor allem-, indem man ihm unterstellte, ein geistiger Urheber des Terrorismus“ zu sein. Sein Spiegel-Artikel „Will Ulrike Meinhof Gnade oder freies Geleit“ Anfang 1972 hatte Empörung ausgelöst oder genauer, den Boulevard die Empörung unters breite Volk rufen zu lassen. Das Buch „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“ handelt von dieser schweren Zeit. Dabei suchte Böll nach Wegen, die verirrten jungen RAF-Leute zurückzuholen, ehe es zu spät war. Rache war nicht sein Thema. Ebenso wie Brandt war Böll ein Hoffnungsträger für die Jugend, noch vor Brandt war er in der Sowjetunion wegen seiner Bücher bekannt und anerkannt, seine Werke waren ins Russische übersetzt worden, Böll reiste früh nach Russland, er hatte Kontakt zu den russischen Schriftstellern.
Vergiftetes Klima
Am 21. Dezember 2017 wäre Heinrich Böll, 1985 gestorben, dessen Grab auf einem Friedhof im Vorgebirgs-Örtchen Merten liegt, zwischen Bonn und Köln, 100 Jahre alt geworden. Es ist Zeit, an einen der bedeutendsten deutschen Schriftsteller der Nachkriegszeit zu erinnern, darauf hinzuweisen, wie man dem gebürtigen Kölner teils übel mitgespielt hat. Das gesellschaftliche Klima war damals, zugegeben, anders als heute: vergiftet, die Wut der Konservativen auf einen wie Böll maßlos. Man beschimpfte diesen großen Erzähler einen „literarischen Nestbeschmutzer“. Noch in seinem Todesjahr gibt Böll Brandt einen Brief an Michail Gorbatschow mit der Bitte, das Haus von Boris Pasternak in Peredelkino nicht aufzugeben, sondern als Erinnerungsstätte zu erhalten. Heute ist das Haus, in dem der Schriftsteller seinen Dr. Schiwago schrieb, ein Museum.
Heinrich Böll, daran erinnerte Norbert Bicher bei der Buchvorstellung in der Kölner Stadtbibiliothek, sei ein Mann gewesen, der etwas zu sagen hatte. Wie Willy Brandt. Zwei große Deutsche. In seinem Nachruf würdigte Brandt den Schriftsteller: „Eine Gesellschaft müsste von allen guten Geistern verlassen sein, wenn sie Ihre Literatur… nicht zur Selbstverständigung nutzen wollte.“
Norbert Bicher: Mut und Melancholie. Heinrich Böll, Willy Brandt und die SPD. Verlag Dietz. 248 Seiten. 22 Euro
Bildquelle: Screenshot Buchcover, http://dietz-verlag.de